Sonntag, 13. Oktober 2019

Hamburg 2019 - Meine Hamburgensien Teil 6: Ottensen = Mottenburg


"Da kriegste ja die Motten" - damit ist gemeint: "ich bin wütend". Mit dem Spruch: 'Die Motten haben' sagte man aber früher auch, wenn jemand an Tuberkulose erkrankt war - typisch für Stadteile, in denen arme Menschen lebten. Als wir Anfang der 1980er Jahre nach Ottensen zogen, einem Stadtteil in Altona, hörte ich bald den Spitznamen des Viertels am Altonaer Bahnhof: "Mottenburg". Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das einstige Dorf schnell zum Industriestandort mit Fabriken und kleinen Werkstätten entwickelt. 


Katalog zur Ausstelllung
Entsprechend elend waren viele der Behausungen, in denen die Arbeiter und ihre Familien wohnen und arbeiten mussten. In feuchten Kellern wickelten Männer, Frauen und Kinder Zigarren, dort erkrankten viele von ihnen an Tuberkulose. Diese Werkstätten wurden damals im Kaiserreich aber zur 'Volkshochschule' der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes. Während im Keller die Zigarren gewickelt wurden, las ein Arbeiter den anderen Artikel aus SPD-Zeitungen und politische Schriften vor. Diese Vergangenheit kann man heute noch an der Bebauung Ottensens erkennen - bürgerliche Wohnhäuser stehen unweit kleiner Werkstätten und ärmlicher Häuschen. Dort wohnten und arbeiteten bis in die 70er Jahre vor allem Arbeiter. Wir zogen Anfang der 1980er in eines der bürgerlichen Häuser in der Eulenstrasse, Ecke Große Brunnenstrasse. Die großen Wohnungen war von der Eigentümerin, die in den noblen Elbvororten wohnte, geteilt worden - das brachte höhere Miete und durch unseren Flur musste immer der Nachbar in seinen Wohnteil laufen. Das Haus, mit der Kneipe 'Vogel' im Erdgeschoss lag an einem der für den Stadtteil typischen dreieckigen Plätze. Damals hatte Ottensen seine industrielle Geschichte bereits hinter sich, das Quartier galt als Sanierungsfall und der SPD-Senat wollte durch das Viertel eine Schnellstraße bauen. Damit sollte die Innenstadt mit den Elbvororten und dem 1974 fertiggestellten neuen Elbtunnel verbunden werden. Dagegen regte sich aber in Ottensen der Widerstand der Bewohner, im Lauf der Jahre waren in das einstige Arbeiterviertel immer mehr junge Leute gezogen, die Wohnungen in den alten Häusern waren billig. Bald entwickelte sich hier eine quirlige Szenerie aus alteingesessenen Arbeitern, Studenten und Migranten, die begannen sich für die Geschichte und den Erhalt des Viertels zu engagieren - es entstand das Stadtteilarchiv, das damals eine Ausstellung zur Geschichte Ottensens organisierte. Diese Ausstellung fand vor allem in Schaufenster oder leerstehende Geschäften statt, alte Einwohern erzählten im Katalog von der Arbeiterbewegung und der Nazizeit im Stadtteil. Auch eine eigene kleine Zeitung wurde regelmäßig produziert und an den Tischen der Bürgerinitiativen und in den kleinen Läden verkauft.

Stadtteilfest bei M&H 1980
Flohmarkt M&H Gelände 1982
Gegenüber unserer Wohung befand sich damals das Gelände der Maschinenfabrik Menck & Hambrock. https://stadtteilarchiv-ottensen.de/angebote-fuehrungen/menschen-hintergruende-qr-codes/noeltingstrasse-am-born/ Die Maschinenfabrik war damals schon Geschichte, 1976 hatte sie Insolvenz anmelden müssen. M&H stellte vor dem Krieg große Bagger her, manche dampfbetrieben. Während des 2.Weltkrieges war die Fabrik ein wichtiges Rüstungsunternehmen der Hansestadt. Dort mussten viele Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Anfang der 80er Jahre war bereits der größte Teil des Werksgeländes planiert worden. Als wir hierher zogen, war man gerade dabei, das alte Verwaltungsgebäude in der Ottensener Hauptstrasse abzureißen. Bald engagierten sich viele Anwohner dafür, dass das Gelände nicht bebaut wird, man forderte einen Park mit Spielplatz für die Ottensener Bevölkerung. Im engbebauten Quartier gab es kaum Grünanlagen oder Raum für Kinder. Es wurden Demonstrationen und Besetzungen des Geländes mit Baumpflanzaktionen und Festen organisiert. Der Kampf
Park und Kemal Altun Platz 2019
gegen die Stadplaner war zumindest teilweise erfolgreich, denn heute befindet sich auf Teilen des Geländes ein Park und der Kemal Altun-Platz https://de.wikipedia.org/wiki/Cemal_Kemal_Altun, benannt nach einem politischen Flüchtling aus der Türkei, der in Berlin aus dem Fenster in den Tod gesprungen war, weil er abgeschoben werden sollte. Ein Teil des M&H-Geländes ist jetzt mit Wohnungen bebaut, am Rand erinnert ein alter Dampf-Bagger an die Industriegeschichte.


Einzige Erinnerung an den alten Bahnhof Altona
Der im neoklassischen Stil des Hauptbahnhofes und des Bahnhofs Dammtor erbaute Fernbahnhof Altona wurde 1974 trotz vieler Proteste der Anwohner durch einen hässlichen Betonklotz samt Kaufhaus ersetzt - heute wird darüber diskutiert, diese Scheußlichkeit abzureißen. Das Kaufhaus ist schon lange Pleite und der Bahnhof ist eines der vielen Beispiele, für die fatale Baupolitik der Senats. Hinter dem Bahnhof beginnt die Fußgängerzone bis zum Spritzenplatz. Das alte Hallenbad ist verschwunden, auch hier halfen Proteste nichts. Wo einst die Hertie-Filiale stand, ist heute eine shopping mall, die aber wirtschaftlich wohl auch vor dem Aus steht. 

Spritzenplatz 2019
 




Der dreieckige Spritzenplatz am Ende der Fußgängerzone - typisch für Ottensen - war und ist das Zentrum des Stadtteils. Hier findet immer noch regelmäßig der Markt statt, auf dem ich früher gerne einkaufte, im Herbst vor allem Äpfel aus dem alten Land. Aber dieser Platz war auch der Ort, an dem Politik auf Wirklichkeit traf. Regelmäßig stellten hier Bürgerinitiativen und Parteien ihre Infostände auf - vor allem während der Hochzeit des Widerstands gegen Atomenergie. Vor Ort wurde agitiert und gestritten, dass die Fetzen flogen. Den Platz prägen heute die Skulpturen zweier Frauen, neben einem kleinen Torbogen. Als ich ihn jetzt in strömendem Regen besuchte, war gerade Markttag, nur eine kommerzielle Gruppe hatte einen Stand aufgebaut - sie sammeln im Auftrag Spenden und werden mit Mindestlohn bezahlt... 

Initiativarbeit vor Ort
Einst Anti-AKW-BI Altona
Zu 'meiner' Zeit informierte die BI-Altona gegen Atomkraft hier regelmäßig die Bevölkerung. Mit Infotisch und Stellwänden gegen die Umweltpolitik der Regierung. Das war bürgernahe Politik zum 'anfassen', ganz ohne Internet oder Mobiltelefon. Unsere 'Ini' hatte damals ein kleines Ladengeschäft an der Straße 'Bei der Reitbahn' angemietet. 
Hier traf man sich wöchentlich, diskutierte und organisierte Aktionen und Büchertische. Daneben lag die griechische Taverne "Sotiris", in der wir oft nach den Treffen bei Ouzo und Suvlaki versackten. Der Besitzer erzählte mal, er vertrage das heiße Wetter in Griechenland nicht. Da war er in Ottensen gut gelandet, vor allem im Winter wurde es, wegen der nahegelegenen Elbe, hier ziemlich kalt. Manchmal erwachte man morgens und der Blick aus dem Fenster bot nur milchigen Nebel. In der Ferne hörte man die Nebelhörner der Schiffe auf der Elbe. 

Es war in den 80ern viel los in Ottensen, eine bewegte Zeit, eine Menge Leute engagierte sich für Politik. Das Stadtteilarchiv gibt es glücklicherweise heute noch. Damals versuchte es das Areal der Zeisefabrik, die einst in der Friedensalle die mächtigen Schiffsschrauben für Ozendampfer produziert hatte und 1979 in Konkurs gegangen war, vor dem Abriss zu retten. Man wollte es als "Museum der Arbeit"  erhalten. Die Zeisehallen stehen immer noch, heute befinden sich hier Film- und Medienunternehmen, ein Kino, ein Restaurant und kleine Läden sowie ein Kindergarten. 



Diese
Eingang zur Zeisehalle
Entwicklung stößt im Stadtteil nicht nur auf Zustimmung, viele Altbewohner befürchten eine 'Gentrifizierung' Ottensens - also die Verdrängung ärmerer Bewohner zugunsten kaufkräftiger Schichten. Immer stärker wird das Quartier für dieses Milieu attraktiv. Bei meinem Besuch hatte sich auf den ersten Blick nicht viel verändert, auf den Zweiten fiel mir aber das Publikum in der 'Zeise' auf, das eher nach Elbchaussee als nach Mottenburg aussah. Allerdings haben sich auch viele Einwohner seit den 80er Jahren verändert - Vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer.



Revolutschon in Ottensen? Der Lack ist ab
Zurückgekehrt zum Spritzenplatz erinnerte ich mich an den kleinen Zeitungsladen, in dem damals zwei ältere Hamburger Deerns alles, von Bild, Abendblatt und Morgenpost bis zu linken Zeitungen verkauften. Sie hatten immer einen lockeren Spruch drauf - heute Geschichte. Jetzt ist hier ein Handyladen. Auch das 'Sotiris' zog von der Reitbahn weg in die Barnerstrasse und muss jetzt dort weichen, denn das Haus wird abgerissen. Das 'Sotiris' war schon ein Markenzeichen Ottensens, später las ich in einem Interview, dass auch Fatih Akin hier oft einkehrt. 

Pikant, das Eckhaus in der Barnerstrasse - unweit der legendären 'Fabrik' - beherrbergte in den 1970er Jahren im Dachgeschoss die NPD-Geschäftsstelle Hamburgs. Auch in der Ottensener Hauptstrasse gab es damals einen 'braunen Fleck', hier hatte ein Händler mit Orden und NS-Devotionalien einen kleinen Laden
- aber das war in den 80ern alles vorbei. Einen wichtigen Anteil an der 'alternativen' Entwicklung Ottensens hatte das Veranstaltungszentrum 'Fabrik' in der Barnerstrasse. Sie ist seit 1971 noch ein beliebter Ort für Konzerte, dabei wissen die wenigsten, dass das alte Gebäude der Maschinenfabrik 1977 komplett abbrannte. Hier habe ich viele Abende verbracht, sah Udo Lindenberg noch als Schlagzeuger von Klaus Doldingers 'Passport' und andere Jazzgrößen. Das Plakat am Eingang der Fabrik fand ich sehr aktuell. 





Ein paar hundert Meter weiter, im Nernstweg, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein - mich
jedenfalls hat das gefreut. Hier steht immer noch die 'Werkstatt III' ein Treffpunkt vieler Initiativen und Veranstaltungsort samt Kneipe mit gutem Essen. 

Auch das kleine Kellerbüro des Vereins "Rettet die Elbe" existiert immer noch. In den 80iger Jahren war Ottensen 'voll Links' - diverse Gruppen und Parteien waren im Stadteil aktiv- auch die SPD versuchte mit ihrem Stadteilbeauftragten ihren abnehmenden Einfluss zu
Demo 1980 wegen Verkehrsberuhigung vor unserer Wohnung
halten. Die Abriss- und Sanierungspolitik des SPD-Senats stand dem allerdings entgegen,  Umweltschutz und Verkehrsberuhigung interessierten auf Dauer dann mehr, als der 'Klassenkampf'.  Konkurrenz und Streit zwischen DKPlern, K-Gruppen und 'Autonomen' waren manchmal bizarr. Die Filiale der Hamburger Sparkasse am Spritzenplatz war wohl die am häufigsten demolierte Niederlassung in der Hansestadt. Regelmäßig kamen hier Demonstrationen vorbei und manch ein  'Straßenkämpfer mit Hasskappe' nutzte das zum Angriff auf die Fenster des HASPA - während ich um mein Schließfach im Keller bangte. 




Meine Revival-Tour führte mich durch die Ottensener Hauptstrasse und neben der Apotheke stieß ich auf eine graue Plakette mit Inschrift. Sie erinnerte an den Arzt, Claus Jürgen Carstensen, der eine der ersten Gemeinschaftspraxen eröffnet hatte. Ich blieb gerührt stehen, mit Claus hatte ich in den 80ern für kurze Zeit gemeinsam  Musik gemacht. Er hatte in einem Hinterhaus, das ihm gehörte, das Dach zum Übungsraum ausgebaut und war als Saxophonist ein ausgewiesener Jazzkenner (Charlie Parker). Seine Gemeinschaftspraxis war eine Anlaufstelle gerade für ärmere Bewohern des Stadtteils. Er hatte den typisch harten Humor vieler Ärzte, als wir an einem Abend beim 'Sotiris' saßen, bestellte er Fleisch mit der Bemerkung, er brauche wegen seiner Erkältung jetzt Antibiotika - ich schaute zuerst dumm, bis ich begriffen hatte. Einmal meinte er: "Also wenn ich mal auf der Straße umfalle habe ich in der Tasche einen Zettel: Liegen Lassen!" - nun ist auch er Teil der Geschichte geworden - über das Gedenken an ihn habe ich mich sehr gefreut. 

Ja es war damals hier schon einiges los, so spielte die Story des in der linken Szene belliebte Frauenbuchs "Das Ende des Märchenprinzen" über eine verkorkste linksalternative Beziehung, vor unserer Tür. Der Protagonist war ein autonom angehauchter Typ der Anti-AKW-BI, die Autorin frauenengagiertes Mitglied des KB (Kommunistischer Bund) Damals war das Buch eine Abrechnung mit 'alternativen' Machos, später konnte ich aber auch über die Ansichten der Autorin nur den Kopf schütteln. Gegenüber unserer Wohnung war der Ottensener Frauenladen, da ging auch meine damalige Freundin ein und aus. Wie dem auch sei, in Ottensen brodelte es jedenfalls, hier war immer was los - und das nicht nur im positiven Sinne. Eines Abends hörte ich einen lauten Knall und rannte zum Fenster, neben dem 'Sotiris' war im vierten Stock gerade jemand dabei, seine Wohnungseinrichtung durch die geschlossenen Fenster auf die Straße zu werfen - glücklicherweise wurde unten niemand getroffen. Kaputte Leute und Drogenabhängige gab es hier auch, als ich eines morgens zur Uni radeln wollte und mein Fahrrad aus dem BI-Laden holte, wurde neben mir die Haustür aufgerissen. Ein Mann stürzte heraus und rannte die Staße hinunter, Sekunden später kam ein anderer mit einem Messer in der Hand hinterher - da hatte wohl jemand schlechten Stoff verkauft.

Auf dem Weg die Ottensener Hautpstrasse entlang sah ich das Schaufenster der Ottenser "Druckwerkstatt". Einst ließen hier Inititativen Flugblätter und Broschüren drucken. Heute verkauft das Geschäft vor allem Schmuckpapier und originelle Souveniers über Hamburg und Altona. Ich klönte etwas mit der Frau hinterm Tresen über alte Zeiten, sie meinte, den Laden werde man wohl bis zur Rente noch halten können, dann sei es aber vorbei damit. Schräg gegenüber ging ich in die Bäckerei, in der ich schon früher eingekauft hatte, dort orderte ich mir zwei hanseatische Spezialitäten: Rumkugel und Franzbrötchen. Es machte Spaß mit der jungen Bedienung darüber zu plaudern - sie war nett zu dem alten Knaben mit weißem Haar. Gegenüber im Keller hatte einst der erste Bioladen in Ottensen eröffnet, der Betreiber war unter strammen 'Linken' etwas suspekt - war er doch anscheinend Anhänger Bhagwans.

Vor diesem Besuch des Stadtviertels, der für mich prägend war, hatte ich mich am meisten vor meinem Hamburg-Trip gefürchtet. Würde ich noch etwas wiedererkennen, würde mich die Altersmelancholie und/oder Sehnsucht überkommen. Zum Glück: Ich konnte mich einfach freuen, dort zu sein. Es gelang mir, mich mit einer Studienkollegin zu einem Kaffelklatsch zu treffen. Wir saßen in einem Kaffee-Pavillon gegenüber meiner alten Wohnung und plauderten über alte Zeiten. Die junge Bedienung fragte mich, als sie hörte dass ich in Stuttgart lebe, wie die Leute da seien. Es entwickelte sich ein Gespräch über das Schwabenland und seine 'Metropole' - aber darüber schweige ich lieber.    

...ja die Nostalgie überkam auch mich....

    





Samstag, 21. September 2019

Hamburg 2019 - Meine Hamburgensien Teil 5: Von der 'Uni-Klause' zur Universität


1968 war ich 14 Jahre alt - die Studentenbewegung und die Außerparlamentarische Opposition (APO) fanden in der "Tagesschau" statt. Dabei lag die Hamburger Universität nur zehn Minuten Fußweg von unserer Wohnung entfernt. Wir Jugendliche diskutierten über die 'richtige' Musik. Die einen waren für deutsche Schlager, die anderen für harten Rock. Ich hörte regelmäßig NDR2 "Musik nach der Schule" und den britischen Soldatensender BFBS, denn hier wurde meine Musik gespielt. Manchmal schalteten wir auch das Programm des 'Deutschen Freiheitssenders 904' und des "Deutschen Soldatensenders 935" ein. Diese beiden DDR-Programme brachten 'Underground Bands' wie "The Nice" und auch Stücke von DDR-Musikern wie der 'Klaus Renft Combo' wurden gespielt. Dazwischen gab es dann verschlüsselte Meldungen für die 'Genossen' im Westen wie: "Auf der Mauer blüht eine Akazie" und ähnlich Gehaltvolles. Abends verfolgte ich mit meiner Mutter die  Fernsehnachrichten mit Filmen über den Vietnamkonflikt und den 'Sechstagekrieg' der Israelis gegen die Araber. Mich beschäftigte damals allerdings mehr meine bevorstehende Konfirmation - einmal wöchentlich musste ich dazu den langweiligen Religionsunterricht ertragen.

Wir waren eine Gruppe junger Außenseiter, die sogenannte 'progressive' oder 'underground' Musik hörten. Sie zeigte eine neue Welt und einige von uns besorgten sich Musikinstrumente. Jeden Freitag fuhren wir hinaus nach Tonndorf und improvisierten dort stundenlang in einem Keller - ich saß am Schlagzeug. Alle waren Autodidakten, keiner besaß eine musikalische Vorbildung - learning by doing lautete die Devise. Wir orientierten uns an Musikern wie Jimi Hendrix, Johnny Winter, Steamhammer, Allman-Brothers, Rory Gallagher, Hardin & York oder Frank Zappa. Als Inspiration dienten uns Musikfilme im Kino, wie der Dokumentarfilm "Monterey Pop". Bei diesem US-Festival in Kalifornien fackelte 1967 Jimi Hendrix während des Auftritts seine Gitarre ab - im Publikum saß, die entgeistert auf die Bühne blickende, 'Mama Cass' von den 'Mamas und Papas'.

Abaton-Kino heute
Zum Schlüsselerlebnis wurden für uns Filme wie "Easy Rider" und "Woodstock", die Anfang der 70er Jahre in unsere Kinos kamen. Diese Mischung aus Musik, Protest und Aufbegehren gegen das "Establishment" gab uns das Signal: Es musste mehr geben, als ein Leben zwischen Bausparvertrag und Neckermann-Urlaub. Begeistert verfolgten wir auf der Leinwand die Auftritte von Carlos Santana und Joe Cocker, Ten Years After und Jimi Hendrix. Wie er auf der Bühne die US-Nationalhymne  "the star spangled banner" musikalisch 'abschlachtete' war grandios. Damals befand sich der Vietnam-Krieg in seinem brutalen Endstadium. Ich erinnere mich heute noch an den Film "Winter Soldiers" von 1972, der im ARD-Fernsehen gezeigt wurde. Hier schilderten ehemalige US-Soldaten die von ihnen miterlebten Gräuel an der vietnamesischen Zivilbevölkerung. Diese Mischung aus Musik und Aufbegehren gegen Konventionen politisierte und radikalisierte uns - step by step.


Einstmals die 'Uni-Klause'
Aus meinem Buchregal
Wir verbrachten unsere meisten Abende in der "Uni Klause" am Grindelberg. Im Hinterraum spielten wir Billard und Kicker, während in der Juke-Box andauernd Hits wie 'I`ve never promised you a rosegarden' liefen. Das Ehepaar, das die Kneipe führte, betrachtet uns immer wieder misstrauisch - aber wir machten Umsatz. Wir wirkten mit unseren langen Haaren damals für viele Leute wie der personifizierte Bügerschreck, dabei waren wir ziemlich brav und friedfertig. Einmal beschimpfte mich einer in der U-Bahn: "Dich haben sie vergessen zu vergasen" so war das in den 70ies....



Abaton-Eingang heute
Schräg gegenüber unserer Stammkneipe hatte Anfang der 70er Jahre das "Abaton-Kino" eröffnet. In diesem sogenannten Programmkino liefen Filme außerhalb des Mainstreams. In einem angeschlossenen kleinen Plattenladen gab es US-Comic-Hefte wie "Faboulous Furry Freak-Brothers", "Fritz the Cat", oder Cartoons gegen den US-Krieg in Vietnam - und die aus heutiger Sicht ganz schön sexistischen Comics von Robert Crumb. Ach ja Sex, im Abaton gab es damals monatlich an  einem Freitag-Abend in der Spätvorstellung "Erotik im Untergrund".  Hier wurden schräge Sex-Filme und Porno-Streifen gezeigt - jedesmal gab es lange Schlangen vor dem Kino - immer waren die Vorstellungen ausverkauft, es kamen zumeist Männer...



Audimax heute
Zunehmend besuchten wir auch die elegant geschwungene Halle des Auditorium Maximum - Audimax. Hier traten Bands wie "Uriah Heep" oder "Ton-Steine-Scherben" auf. Wöchentlich liefen außerdem beim 'Uni-Film' Kinostreifen wie "Das Wiegenlied vom Totschlag"  aber auch der "Tanz der Vampire" oder Filme mit Stan Laurel und Oliver Hardy oder Buster Keaton wurden gezeigt. Dazu kamen etwa 1000 Zuschauer, die die Filme  auf der großen Leinwand manchmal lautstark kommentierten - so herrschte hier oft Party-Stimmung. Nach dem Verlassen des Audimax sahen wir an den Wänden die in der Dunkelheit geklebten neuesten Plakate und Demoaufrufe der diversen Polit-Gruppen.

Heine blieb
Mitte der 70er eröffneten verschiedene linke Gruppen Buchläden in Nähe der Universität. So hatte der "KBW - Kommunistische Bund Westdeutschland" am Hallerplatz seinen Laden. Wenige hundert Meter entfernt hatte die Konkurrenz des "KB - Kommunistischer Bund" am Grindelhof das "Arbeiterbuch". Auch in der Grindelallee wurden zwei Läden der "Heinrich-Heine Buchhandlung" und ein weiterer um die Ecke in der Schlüterstraße eröffnet. Übrig geblieben davon ist nur die Heine-Buchhandlung in der Grindelallee.


Talmud Tora Schule
Jahrelang kam ich auf dem Weg zu unserer Kneipe an einem neoklassizistischen Gebäude vorbei, es beherrbergte die Fachhochschule für Bibliothekswesen. Erst später erfuhr ist, dass hier einst die jüdische Talmud-Tora-Schule ihren Sitz gehabt hatte. Nichts erinnerte in den 70er Jahren daran auch nicht, dass daneben einst eine Synagoge gestanden hatte - sie war 1938 in der 'Reichspogromnacht' zerstört worden. In dieser Gegend lebten damals viele Juden, mein Vater hatte 1932 in der Straße "Rutschbahn" bei einer Familie sein Studentenzimmer gehabt. Er erzählte mir einmal von seinen Erlebnissen mit SA-Schlägertrupps, die damals auf Linke Jagd machten.


HWP heute
Als ich 1980 mein Studium der Sozial- und Politikwissenschaften an "Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP)" begann, war die Hochzeit der Studentenbewegung bereits vorbei. Hausbesetzungen, der Deutsche Herbst (RAF) sowie die aufkommende Anti-AKW- und Alternativbewegung prägten die politische Szenerie. Unsere Hochschule unterschied sich von der klassischen Universität, denn hier konnte man auch ohne Abitur studieren. Dazu musste man eine Aufnahmeprüfung bestehen, die Hochschule galt als Kaderschmiede der Gewerkschaften. Viele Studenten waren zuvor berufstätig gewesen und brachten als Betriebsräte und Vertrauenleute ihre Erfahrungen mit. Der Altersdurchschnitt war deutlich höher, als an der Universität und damit war die Debattenkultur in der HWP viel spannender. Dozenten wie Theorien wurden mit den Erfahrungen der Studenten konfrontiert.

HWP-Lichthof heute
Für mich war die Zeit an der HWP politisch prägend, mehr als das spätere Studium der Soziologie an der Universität Hamburg. Kein Wunder also, dass mich mein Besuch zurück zur HWP führte. Die großen politischen Konflikte - Stichworte Brokdorf und Hafenstraße - spiegelten sich damals auf den großen Wandzeitungen im Lichthof der Hochschule wieder. Dort wurde leidenschaftlich über aktuelle Themen kontrovers und polemisch debattiert. Alles bezog sich aber weniger auf den Hochschulbetrieb, zunehmend kamen Themen der Alternativbewegung in die Hoschschule. Gegen den Willen der etablierten Politgruppen der HWP (MSB, SHB, Jusos) wurde in der semesterfreien Zeit "Sommerhochschulen" organisert. Dabei ging es etwa um Rüstungskonversion in den Werftbetrieben und Ökologie.



Bildunterschrift hinzufügen

Bei meinem Besuch wirkte der Campus der Universität  ziemlich aufgeräumt und friedlich. Es ist schick und damit teuer geworden, hier zu wohnen. So mancher Spekulant träumt wohl immer noch davon, dass die Universität verlegt wird und die Grundstücke frei werden - solche Ideen gab es mal. Die Gentrifizierung - also die soziale 'Aufwertung' der Gegend ist deutlich sichtbar. Wo in der Schlüterstrasse einst das Pädagogik-Kinderbuch seinen Laden hatte, verkauft heute ein Geschäft Anlagen zur Einbruchssicherung und Überwachungstechnik.

Einst hieß es: "Ich war hier - Godot!"
Keine leckeren Studenten in Sicht....

 
  

Dienstag, 10. September 2019

Hamburg 2019 - Meine Hamburgensien Teil 4: Freihafen - Kulissen - Elbe


Der Freihafen war für mich schon als Schüler ein besonderer Teil der Stadt. Oft wurden wir beim "Wandertag" in die großen Lagergebäude geführt. Ich erinnere mich an die massigen Klinkerbauten und die flachen Frachtkähne - Schuten - die in den Fleeten daneben zum Be- und Entladen festgemacht hatten. Von dort wurden die Waren mittels der Seilwinden, die an den Vordächern der Lagerhäuser hingen, in die oberen Stockwerke verbracht. In der Speicherstadt stehen heute noch die großen Lagerhäuser. Damals gab es ganze Häuserzeilen für bestimmte Händler. Dort stapelten sich tausende kostbarer Orient-Teppiche oder Säcke mit geröstetem Kaffee aus Südamerika - überall konnte man das riechen. Ähnlich war es mit den Lagerhäusern der Gewürzhändler - Hamburg war immerhin weltweit zweitgrößter Umschlagplatz. Sie  erkannte man ebenfalls am intensiven Geruch schon vor dem Gebäude. Diese Besuche mit der Schule im Freihafen waren für mich der Beweis: Hamburg war "Das Tor zur Welt."

Mitte der 1970er Jahre habe ich während der Schulferien drei Wochen lang im Freihafen gearbeitet, bei einem Schiffsausrüster für Nahrungsmittel am Kannengießerort. Jeden Morgen lief ich über die kleine Fußgängerbrücke beim Katharinenkirchhof in den Freihafen. Überall war er damals von hohen Zäunen und Stacheldraht abgeschirmt, an den Straßenbrücken standen Zollbeamte, die die Fahrzeuge und auch Fußgänger kontrollierten, die das Gebiet verlassen wollten - so wollte man den Schmuggel unterbinden. Kass & Richers  belieferte damals im Hafen liegende Frachtschiffe mit allem, was die Kombüse und der Smutje (Schiffsküche und Schiffskoch) anforderten. Im mehrstöckigen Hochhaus aus Backstein lagerten Nahrungsmittel aus aller Welt und so roch es hier überall intensiv. Der Job war nicht einfach, denn oft mussten wir Holzpaletten mit zentnerschweren Mehl- Zucker- und Salzsäcken transportfertig machen. Zur 'Belegschaft' gehörten damals zwei Katzen - wegen der Mäuse und Ratten. 

Einstmals 'Kass & Richers' - Seilwinde mit Etagentüren
Am Gefährlichsten war der Job an den offenen Lagertüren zum Fleet am Alten Wandrahm. Hier machten die Schuten fest, die den Nachschub brachten, dieser wurde über die im Dach angebrachte elektrische  Seilwinde in die Etagen befördert. Hier durften eigentlich nur erfahrene Kollegen arbeiten, aber einmal holte man mich dazu. Ich stand am Rand der obersten Etagentür - darunter ging es viele Meter hinunter ins Fleet. Mit einer Hand musste ich mich an einem Griff festhalten, mit der anderen musste man die Palette hineinziehen, die nach oben gezogen wurde. Da kam es auf das richtige Timing an, der Kollegen schärfte mir ein: "Wenn ich die Seilwinde mit der Palette runterlasse, dann ziehen wir sie rein, gelingt das nicht beim ersten mal, lass sofort los - sonst wirst Du ins Fleet geschleudert!" Am Feierabend war ich froh, dass ich nicht weiter dort arbeiten sollte. Einmal durfte ich mit einer Barkasse voller Lebensmittel zu einem Schiff im Hafen mitfahren, wir legten an der Schiffswand an und per Kran wurde die Ladung nach oben an Deck geholt. Während der Mittagspause erzählten die Kollegen manchmal von der "Schwarzen Gang" auf meine Frage erzählte man mir, das sei eine verdeckt ermittelnde Abteilung des Zolls, die in Zivil auf Schmugglerjagd gehe.

Nachtrag: Eine der besten TV-Serien der 80er Jahre war: "Schwarz Rot Gold" im ARD-Programm, dabei ging es um die Arbeit von Zollfahndern im Freihafen. Dieter Meichsners Serie zeigte die Mechanismen der Wirtschaftskriminalität vor dem Euro.... https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarz_Rot_Gold_(Fernsehserie)

Heute ist das alles nur noch Geschichte und der Freihafen zur Touristenkulisse degeneriert. Im Jahr 1888 eröffnet, wurde der Status des Freihafens 2013 aufgehoben - für die alte Speicherstadt galt das bereits ab 2003. In der Folge wurde das Gebiet zur Bebauung mit Luxuswohnungen freigegeben. Man wollte eine elbnahe Ansiedlung ähnlich der Londoner Docklands erschaffen, dazu gehörte auch die am Ende des Sandtorhafens auf einem alten Speicherblock errichtete Elbphilharmonie. Die schönen alten Häuser der Speicherstadt prägen das Panorama, kommt man aus der City, zwischen Zollkanal und Baumwall. Neben einigen Firmen, die Orientteppiche anbieten, finden sich heute dort Angebote für Touristen und im Sandtorhafen einige alte Schiffe. 



Auf dem Weg zum Musentempel kam ich am Museumshafen vorbei, hier liegt die "Seute Deern". Das Schiff lief 1961 vom Stapel und verkehrte als Ausflugsdampfer nach Helgoland - als Schüler war ich auch einmal auf dem Schwesterschiff "Alte Liebe" Richtung Helgoland. Beide Schiffe befuhren diese Route, an Bord vor allem Schnäppchenjäger, die der zollfreie Einkauf von Zigaretten und Alkohol auf die Insel lockte. Die Schiffe legten auf Helgoland nicht an, das Privileg der Inselbewohner, mit Barkassen die Besucher an Land zu bringen, wurde nicht angetastet. "Ausbooten - Ausbeuten - Einbooten" lautete die Devise der Helgoländer. Bei der Rückkehr standen an den Landungsbrücken mehrere Krankenwagen, um die 'Schnapsleichen' auszuschiffen. Heute liegt die "Seute Deern", gemeinsam mit einem alten Schwimmkran und einem Bagger verloren wirkend im einstigen Sandtorhafen. Einst das erste Hafenbecken der Stadt für die Entladung von Frachtern am Kai, wirken die Schiffe hier deplaziert, umgeben von teuren  Eigentumswohnungen. 


Nun stehe ich vor dem hanseatischen Weltwunder, der Elbphilharmonie - genannt 'Elphie'. Einst mit rund 80 Millionen Euro geplant, kostet der Musentempel jetzt die Stadt das Zehnfache. Kommt man per Schiff die Elbe flussaufwärts, thront sie deutlich sichtbar hinter den Landungsbrücken, am Fleeteingang zum einstigen Freihafen. Ein mächtiger Bau aus rotem Stein mit einem futuristisch wirkenden Glasaufsatz. Aus der Ferne wahrlich imposant, als ich dann aber davor stehe, wirkt der Klotz auf mich beängstigend. Als Schüler jobbte ich mal in einem der NS-Flak-Hochbunker hinter dem St.Pauli-Stadion - ein unheimlicher Ort und irgendwie wirkte die Elbphilharmonie auf mich von außen ähnlich bedrückend, einschüchternd und außerdem architektonisch erschlagend.  Die vielen Menschen vor dem massiven Gebäude sahen wie ein Haufen kleiner Ameisen aus. Aber da ja alle Welt von der Elphie schwärmt, reihte ich mich in die Besucherschlange ein, die über die lange Rolltreppe zur Aussichtsplattform hinauffuhr. Und wirklich, der Blick vom rund um das Gebäude laufenden Balkon auf Hafen und Hamburger City war schon beeindruckend. Den Konzertsaal konnte ich leider nicht sehen und so musste ich mich mit dem Panoramablick auf Stadt und Hafen begnügen. 



Bald zog es mich vom Elphie-Balkon aber in Richtung Landungsbrücken - und das lag nicht nur am kalten Wind. Ich wollte eine meiner alten Lieben sehen die Cap San Diego. Am Kai der Landungsbrücken liegen heute ein ausgemustertes Feuerschiff - einst hatte es als
Cap San Diego immer noch fahrbereit
schwimmender Leuchtturm seinen Dienst vor der Elbmündung versehen. Daneben das Dreimast-Segelschiff Rickmer Rickmers und dann die Cap San Diego. Dieser Stückgutfrachter wurde 1961 in Hamburg von der "Deutschen Werft" gebaut - auf der gegenüberliegenden Elbseite. Das Schiff repräsentiert mit seiner Eleganz die Schiffahrt meiner Kindheit. Heute alles vergangen und verschwunden. Die Einstigen Werften mit ihren großen Helligen auf der anderen Elbseite - abgerissen. Heute residiert hier ein Musical-Theater. Mein Vater fuhr mit uns in den 60igern Sonntags gerne elbabwärts zum Willkomhöft bei Schulau. Dort befand sich ein großes Ausflugslokal von dem mit einer großen Lautrsrpecheranlage jedes Schiff, dass in den Hafen fuhr oder ihn verlies, begrüßt oder verabschiedet wurde. Dazu bekamen wir Ausflügler Wissenswertes über das jeweilige Schiff, seine Herkunft und Ladung mitgeteilt. Heute sieht man auf der Elbe fast nur noch klobige Containerschiffe und schwimmende Einkaufszentren - die Kreuzfahrtschiffe.


Aber ich freute mich so über den leicht brackigen Geruch der Elbe, kaufte mir an den Landungsbrücken ein Matjesbrötchen und bestieg dann eine der Elbfähren Richtung Finkenwerder. Auch hier hat sich manches geändert, die alten HADAG-Dampfer, mit ihren an die plumpen Koggen erinnernde Form, suchte ich vergebens. Kurz vor dem Ablegen erkannte ich, dass ein am Anleger liegender Kasten mit Werbeinschrift die gesuchte Fähre war. Aber die Fahrt Elbabwärts mit der steifen Brise war eine Freude - wenn nicht neben mir ein paar Schwaben sich lautstark unterhalten hätten. Dabei war ich als  Zwangs-Stuttgarter doch froh, dem für ein paar Tage entkommen zu sein. Egal, die Fahrt bis nach Övelgönne  und dann rüber nach Finkenwerder ließ mich das vergessen.    


Freitag, 30. August 2019

Hamburg 2019 - Meine Hamburgensien Teil 3: Das Schaufenster


Was macht für mich Hamburg schön und unverwechselbar? Natürlich das Wasser. Deshalb liebe ich auch Hafenstädte wie Lissabon oder Thessaloniki. Beim Anflug auf Hamburg sieht man von oben die drei 'Grazien' der Stadt: Elbe - Binnen- und Außenalster. Meine Sightseeingtour in die City beginnt, wie seit meinen Jugendtagen, mit einer Fahrt der U1 vom Bahnhof Hallerstrasse zum Stephansplatz. Von hier aus folge ich meinen Erinnerungen die Colonnaden entlang bis zur Binnenalster. An einer Straßenecke befand sich in den 70ern die Theaterkasse Schumacher - heute wird hier Pizza verkauft. Damals arbeitete dort meine Schwester bei der Dame, der die Vorverkaufsstelle für Konzert- und Theaterkarten gehörte. Daher bekam ich einen Botenjob, mit dem ich nach der Schule mein Taschengeld verdienen konnte. Dafür fuhr ich Nachmittags kreuz und quer mit Bahn und Bus durch die Stadt zu den Theatern und Konzertveranstaltern. In der Tasche trug ich oft einige Tausend D-Mark und Restkarten, die ich vor Ort dann abrechnen musste. Im Gegenzug holte ich dann Eintrittskarten für die nächste Woche oder neue Konzerte ab. Die Theaterkasse Schumacher wurde gerne von den etwas 'feineren Leuten' Hamburgs frequentiert, die dabei oft ihre Bildungslücken präsentierten. Eine Dame etwa wollte Karten für Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" kaufen und fragte am Tresen nach "Mutter Courrèges" eine andere gar wollte Tickets für "Mutter Clochard" erwerben - da musste man schon die Contenance wahren. 

Colonnaden - hinten das Rathaus
Zur Erklärung für die Digitalen Nerds, in der Vor-Computer-Zeit kaufte man seine Konzert- und Theaterkarten an Vorverkaufsstellen, die kassierten dafür 10% des Kartenpreises. Nach der Schule fuhr ich mit der Bahn in die Colonnaden, bekam das eingenommene Geld für die verkauften Karten und machte mich auf den Weg, angekommen bekam ich im Gegenzug neue Karten für den Verkauf. Für mich war das der Job an sich, denn so kam ich an die besten Karten für Rock-Konzerte. So saß ich Anfang der 70er in der ersten Reihe Mitte der altehrwürdigen Musikhalle direkt vor der Bühne und hörte Jethro Tull live. In meinem Jugendzimmer hingen die ausgedienten Plakate aus der Theaterkasse von den Bands, die ich gesehen hatte: von Uriah Heep, Steamhammer bis zu Alan Stivell - damals war Hamburg wirklich ein internationaler Treffpunkt der Rockmusiker.

Heute ist all das Vergangenheit, das schräg gegenüber gelegene renommierteste Musikgeschäft der Stadt 'Steinway' ist verschwunden. Im Parterre des mehrstöckigen Ladens konnte man die mächtigen Flügel bewundern, darüber gab es alle möglichen Musikinstrumente - die Hamburger Oper war ja nur ein paar Schritte entfernt. Im ersten Stock von Steinway konnte man in Kabinen Schallplatten hören, bevor man sie kaufte. In einer Nebenstrasse befand sich das Urania-Kino - hier sah unser ganze Familie Mitte der 60er den ersten Beatles-Film: "Yeah Yeah Yeah" (https://1913familienalbum.blogspot.com/2014/08/teil-www.html). Als damals  dann der erste sogenannte 'Aufklärungsfilm' dort lief: "Helga - Das Wunder des Lebens" protestierten rechte Sittenwächter der Aktion "Saubere Leinwand" vor dem Kino mit Plakaten - das waren die geistigen Vorgänger der heutigen AfD. Heute erinnert nichts mehr an das Kino von einst.

Collonaden 
Am schönsten war und ist die Passage der Colonnaden mit ihren in südländischer Leichtligkeit geschwungenen Säulen, die bis zum Jungfernstieg hinunter gehen. Einst war hier an der Ecke das große moderne Büro der US-Fluggesellschaft Pan American - abgekürzt PanAm. Wir gingen als Jugendliche gerne in das moderne Reisebüro - konnte man hier doch kostenlos Stadtplänen aller großen  US-Städte mitnehmen. Damals träumte jeder von den USA - leider nichts daraus geworden - und heute eher ein Albtraum. Um die Ecke befand sich das berühmte "Streits"-Kino. Hier fanden in den 60igern noch Premieren von Hollywood-Filmen statt, das gab Hamburg ab und zu ein internationales flair. Heute erinnert nur noch der Name am Eingang des Geschäftshauses an die große Zeit. 

Anstatt auf den Jungfernstieg, auf dem nach der Befreiung von Napoleons Truppen russische Kosaken paradierten, zieht es mich zum Gänsemarkt. Seit 1881 sitzt hier Lessing auf seinem Stuhl und betrachtet die Entwicklung dieses Platzes und der Stadt. Hinter ihm der Klinkerbau der 
Finanzbehörde der Hansestadt. In letzter Zeit hatte Lessing allerdings unerwünschte Besucher, rechte Demonstranten versammelten sich hier. In meiner Kindheit war der Platz nicht verkehrsberuhigt, da warteten am Gänsemarkt Taxen auf ihre Kundschaft. Heute wirkt es sehr 'geleckt' und aufgeräumt hier. Ich nehme den Weg in die Gerhofstrasse, denn hier befand sich einst das 'Bücherkabinett' - ein Antiquariat in dem ich oft stöberte. Heute ist es verschwunden und noble Geschäfte laden die gehobenen
Stände zum shoppen. Dabei lohnt sich ein Blick in das alte Treppenhaus, denn dies hat man im Stil der alten Handelskontore liebevoll restauriert. Aber die ganzer Gegend wirkt irgendwie glatt uns künstlich belebt - die Geschäfte sind sowieso außerhalb meiner Gehaltsklasse. 

Die Poststrasse entlang laufe ich Richtung Rathausmarkt, ein Blick in die Großen Bleichen erinnert mich daran, dass hier einst das Ohnsorg-Theater war und nicht weit entfernt hatte "Fahnen-Fleck" sein Geschäft, da konnte man Flaggen aus allen Ländern bekommen - heute gibt es hier nur noch Ladenpassagen,die Luxuswaren anbieten. 

Rathaus Foyer
Zwar wirkt der Rathausmarkt mit dem wilhelminischen Rathaus, 1886 im Neo-Renaissance-Stil erbaut beeindruckend, aber auch irgendwie leblos. Lange mag man hier nicht stehen, nur Touristen sammeln sich um ihre Fremdenführer. Sie halten Schirme mit dem Firmenemblem hoch, damit die Gäste nicht von der Fahne gehen - ach ja, an manchen hängt ein Wimpel, er zeigt die Sprache des Guides an. Ich mache einen kurzen Abstecher in die Empfangshalle aber hier habe ich mich noch nie so richtig wohlgefühlt, Die 'Hamburger Pfeffersäcke' - die Patrizier und Senatoren, die hunderte Jahre lang die Herrschaft über die Stadt ausgeübt haben, prägen das Rathaus als Bastion ihrer Macht und Herrschaft. Bürger und vor allem die einfachen Leute waren und sind für sie Untertanen.


Ich verließ jedenfalls schnell das dunkle Gebäude und begab mich zu dem Denkmal, das am Rand des Rathausmarktes an den Dichter Heinrich Heine erinnert. Er lebte zwar nur kurze Zeit in der Stadt bei seinem Onkel Salomon Heine, aber im 'Wintermärchen' hat er auf seine typische Art der Stadt sarkastisch die Leviten gelesen. Der jahrelange Streit und Kampf um sein Denkmal ist kein Ruhmesblatt für Hamburg. Lange wehrte man sich im Rathaus gegen eine Ehrung Heines auf dem zentralen Platz der Stadt. Manche wollte in Hamburg nicht gerne daran erinnert werden, dass die Stadt in der Nazizeit ein Denkmal zerstören ließ, ein weiteres wurde damals davor 
gerettet und steht heute im französischen Toulon.  https://www.gedenkstaetten-in-hamburg.de/gedenkstaetten/gedenkort/heinrich-heine-denkmal/

Die meisten Touristen an diesem Tag betrachteten den nachdenklichen Dichter auf seinem Sockel kaum, sie wollten lieber das protzige Rathaus fotografieren. Neben dem Denkmal schlief ein Obdachloser anscheinend seinen Rausch aus - wahrscheinlich wäre dem Dichter diese Nachbarschaft ganz recht gewesen. Am Sockel findet sich Heines persönlicher Epilog: "Ich habe nie großen Wert gelegt auf Dichter-Ruhm und ob man meine Lieder preiset oder tadelt, es kümmert mich wenig, Aber ein Schwert sollt ihr mir auf den Sarg legen, denn ich war ein braver Soldat im Befreiungskampf der Menschheit."



Weniger Probleme hatte und hat die Stadt mit falscher Heroisierung der Kriegstoten - so befindet sich gegenüber den Alsterarkaden ein meterhohes Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Hamburger Soldaten - der Text ist heute noch so verlogen, wie bei seiner Errichtung - denn sie starben nicht für 'uns', sondern für die Großmachtwünsche des wilhelminischen Kaiserreichs. Aber auf das Thema, wie Hamburg mit seiner Geschichte umgeht, werde ich in einem späteren Blogtext eingehen. 

Bevor ich mich in Richtung Hafen weiterbewegte, mache ich noch einen Abstecher zur Binnenalster. Einst fuhren vom Jungfernstieg aus Barkassen als Nahverkehrs-Fähren verschiedene Haltestellen an der Außenalster und in den Fleeten (Kanälen) an. Dann wurde der Linienverkehr  mangels Rentabilität eingestellt - heute bieten noch einige der alten Schiffe Alsterrundfahrten an. Die Möven an der Alster lassen sich glücklicherweise vom Touristenrummel nicht beeindrucken. 

Man mag sich gar nicht vorstellen, was für wahnwitzige Ideen man im SPD-Senat der 60/70er Jahre für den Stadtteil St.Georg hatte. Hinter dem Hauptbahnhof gelgen, sollte er einer futuristischen
...ob sie wohl Emma heißt?
Hochhausskyline weichen, den Isebeekkanal wollte man für eine Schnellstraße zuschütten - was für ein Glück, dass sich das nicht verwirklicht hat. Was aus der alten Speicherstadt des Freihafens mit dem Neubaugebiet der Hafencity und der Elbphilharmonie geworden ist, dass wollte ich mir jetzt ansehen. Aber zuvor machte ich noch einen Abstecher zu einem alten Fischrestaurant, das ich schon als Kind kannte - "Daniel Wischer". Hierher verirren sich Touristen nur selten, dabei gibt es hier traditionelle norddeutsche Fischgerichte. Im leicht angejahrten Gästeraum, voll verwelktem Charme der 70er Jahre gab ich mich einer Büsumer Scholle mit Krabben hin um dann gestärkt den Bus Richtung Hafencity zu besteigen.  





Unten Büsumer Scholle (Krabben) rechts Finkenwerder Kutterscholle (Speck)