Montag, 25. April 2022

Meine Deutsch-Französische Familie Teil VII

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Wilde Zeiten in Hamburg 1932

 

Trotz Magengeschwüren hatte Heinz 1931 das Abitur geschafft und wollte nun das provinzielle Gronau und die beengende Familie hinter sich lassen. Ihn zog es in die Großstadt Hamburg, die mit über einer Million Einwohnern nach Berlin die Nummer Zwei in Deutschland war. Heinz wollte in der neu gegründeten Universität der Hansestadt Volkswirtschaft studieren. Er kam in eine Stadt, auf der seit zwei Jahren die Folgen der Weltwirtschaftskrise lasteten. Dabei hatte sich Hamburg davor erst langsam von den Folgen des Ersten Weltkrieges erholen können. Die Seeblockade der Entente zwischen 1914 und 1919 hatte den Hafen und damit die Wirtschaft lahmgelegt. Anfang der 1930er Jahre waren in Hamburg, zu dem damals weder Altona, Willhelmsburg. Wandsbek noch Bergedorf gehörten, mehr als 133.000 Menschen Arbeitslos. Nimmt man dazu die nicht gemeldeten Menschen ohne Beschäftigung, waren über 200.000 HamburgerInnen ohe Beschäftigung. Elend und Not waren in den Arbeiterquartieren deutlich sichtbar, etwa im Gängeviertel am Hafen. Bei den Wahlen zur hamburgischen Bürgerschaft am 24. April 1932 wurde die NSDAP mit 31,2% stärkste Partei, gefolgt von SPD (30%) und Kommunisten (16%). Das bürgerliche Hamburg und ihr Bürgermeister Carl Petersen (Staatspartei) waren schockiert. Am 17.Juli 1932 kam es zum 'Altonaer Blutsonntag' - damals war Altona eigenständig und gehörte zu Preussen. Bei einem SA-Marsch durch das 'rote' Altona wurden bei Protesten 18 Menschen getötet - der größte Teil durch Polizeikugeln.
Arbeiterhäuser Ottensen 2019

Heinz begann inmitten der chaotischen Zeit im Winter 1931 sein Studium und da auch die Ressings unter den Folgen der Wirtschaftskrise zu leiden hatten, konnte Vater Heinrich seinem Sohn monatlich nur einen Wechsel über 110 Reichsmark zusichern - aber das reichte zum Leben. Davon musste Heinz seine Unterkunft, den Lebensunterhalt und die Studiengebühren bezahlen. Eine kleine Wohnung in einem Arbeiterviertel kostete monatlich 25 Reichsmark - Arbeitslose erhielten monatlich 54 Reichsmark Unterstützung. Heinz ging es im Vergleich damit noch gut, trotzdem musste er schnell seinen akademischen Abschluss erreichen. Aus diesem Grund entschied er sich für Volkswirtschaft, den das Studium konnte er bereits nach sechs Semestern abschließen.

 

2019
Heinz zog zur Untermiete bei einem jüdischen Handwerker und seiner Familie ein. Er wohnte nahe der Universität in der Straße „Rutschbahn“ - so heißt sie heute noch. Für Kost und Logis musste er an seinen Herbergsvater monatlich zehn Reichsmark zahlen. Seine Vermietern waren ziemlich liberal, denn sie drückten bei nächtlichen Damenbesuchen ihres Untermieter, beide Augen zu - immerhin gab es damals den „Kuppeleiparagraphen“ (§180 Strafgesetzbuch), der die Förderung der Unzucht auch für Vermieter unter Strafe stellte. Heinz hatte Glück, morgens fand er für seinen weiblichen  „Schlafgast“ immer einenTeller und eine Tasse vor seiner Zimmertür. 
 
Talmud Tora Schule 2019
Das Viertel um die 'Rutschbahn' war damals von kleinen Handwerkern und Arbeitern geprägt und seit Anfang des 19.Jahrhunderts Zentrum des jüdischen Lebens der Hansestadt. Hier befand sich die Talmud-Tora Schule und daneben eine große Synagoge - die im November 1938 in der 'Reichspogromnacht' angezündet wurde. Heinz fühlte sich in dem quirligen Viertel wohl und vor allem waren es von hier aus nur wenige Schritte zur Universität.   
 
Die Universität wurde im März 1919 gegründet und war damit die erste demokratisch errichtete Hochschule in Deutschland. Gründungsrektor war der Volkswirt Dr.Karl Rathgen. Das die alten 'Werte' des Kaiserreichs aber auch in der Republik nicht verschwunden waren, zeigt das hier 1921 neben dem Hauptgebäude errichtete Wissmann-Denkmal. Es war dem einstigen Gouverneur der Kolonie  Deutsch-Ostafrika gewidmet. Nach 1933 galt es landesweit als das Symbol kolonialer Träume in Deutschland. Erst 1968 ertfernten Studenten das rassistische Objekt - heute lagert es irgendwo in einem Archiv der Hansestadt.

Heinz mischt sich ein sich....  


Im April 1931 zählte, laut politischer Polizei der Hansestadt, der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund etwa 50 Aktive. Bei den Wahlen zum Studentenparlament kamen die Nazis Ende 1931 auf immerhin 38% der abgegebenen Stimmen. Heinz begann in diesem Herbst das Studium und
Heinz 1982 - Ausstellung Arbeiterkultur 1930
tauchte in die politische- und kulturelle Szene der Großstadt ein. Vor allem das boomende Massenmedium Kino zog ihn in seinen Bann. In seiner Freizeit ging er zu Veranstal- tungen, so zu einem Vortrag des sowje- tischen Volks-kommissars für Erziehung, Andrej Bubnow. Heinz nahm auch an Treffen der „Roten Hilfe“ teil. Diese Organisation unterstützte politisch und juristisch verfolgte Linke - national wie international. Gesteuert wurde die formell unabhängige Organisation von der KPD und folgte damit den Direktiven aus Moskau. Für den jungen Studenten aus der Provinz bot sich hier die Möglichkeit, etwas über andere Länder zu erfahren. Besonders interessiert an politscher Theorie oder ideologischen Diskursen war Heinz nicht, ihn faszinierten vielmehr charismatische Persönlichkeiten wie etwa der von Stalin aus Russland verbannte Leo Trotzki. 
 
Damals traten bei Demonstrationen und linken Veranstaltungen auch in Hamburg  Agit-Pop-Theater - „Proletarische Bühnen“ auf. Eine diser Gruppen waren „Die Nieter“, Laiendarsteller, geleitet von einem professionellen Schauspieler. Auf einer Veranstaltung der „Roten Hilfe“ über Rassismus in den USA sah sie Heinz zum ersten Mal und war fasziniert. Er schloss sich danach an der Universtität der „Roten Studentengruppe“ an und wurde Aktiv bei den Nietern. Diese Zeit beschrieb Heinz 1942:

„Das war in Hamburg – Hamburg das „rot“ bleiben sollte – in den ersten Monaten des Jahres 1932. Ein junger Mensch, gerade hatte er sein Abitur gebaut, kam aus der kleinen Stadt Westfalens in die Hanse-Metropole. Die Zeiten waren schwer. Arbeitslose gab es, Erwerbslose noch mehr. Der Wechsel des jungen Studenten war mehr als knapp bemessen. In den Wandelgängen der Universität an der Edmund-Siemers-Allee hingen die schwarzen Bretter der verschiedensten Verenigungen: da fand man die Verbindungen des Kösener SC, die Turner und Sändgerschaften, da fand man die politischen Vereinigungen – Stahlhelm, republikanischer Studentenbund, Rote Studentengruppe, die nationalsozialistischen Studierenden, die Arbeitsgemeinschaft demokratischer Studenten. Die innerpolitische Zerrissenheit des deutschen Volkes konnte nicht besser demonstriert werden, als durch diese Wandelhalle mit ihren Anschlagbrettern: vom Christlichen Verein junger Männer bis zur Jugendgruppe des Centralverbandes deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war alles vertreten.

Am Brett der „Roten“ hing ein Zettel, Werbeveranstaltung des „Bundes der Freunde der Sowjetunion“ nannte sich der Abend, der dort angekündigt war. Johanna Haß würde über ihren viermonatigen Aufenthalt im Lande der Sowjets sprechen. Der junge Mann aus Westfalen nahm sich vor, an diesem Abend den „Aktivisten des Sozialismus“ (so bildete er sich´s ein) einen Besuch zu machen.

Die Luft im Coventgarden* [siehe Anmerkung am Ende des Blogs] an der Fuhlentwiete war stickig, zum schneiden. Ein langer Tisch mit Schriften stand am Eingang. Der kleine Saal im ersten Stock lag in dämmriger Beleuchtung. Am Rednerpult stand ein noch junges Mädchen in kurzem Rock, einfacher Bluse, Das war sie also – die Johanna Haß, die ihr „letztes Semester“ in Moskau studiert hatte. Was sie erzählte, war ein einziger Lobgesang auf das „Sechstel der Erde, in dem der Sozialismus bereits seine Verwirklichung fand“. Sie sprach gut, leicht fasslich und mit Leidenschaft. Dennoch aber klang der Beifall ein wenig matt, als sie geendet hatte. Die Debatte wurde an das Ende dieses Abends verlegt, vorher würden die „Nieter“ auftreten – eine rote Laienspieltruppe.

Quelle***
Und dann war plötzlich die rauchige Atmosphäre wie
weggeblasen: in abgehacktem Rhythmus, schlagkräftig formulierten Parolen, mit billigen, primitiven Mitteln warben diese Jungen und Mädchen für ihre Idee“.. Der junge Mann aus Westfalen war begeistert, ließ sich willig in den Bann dieser Agitation ziehen, berauschte sich an den vorgetragenen Phrasen von Sozialismus, Freiheit der arbeitenden Klasse und vom Paradies aller Werktätigen. Sie sangen ein Lied da oben auf de Bühne, das am Schluß einer jeden Strophe mit den Worten: „Wir schützen die Sowjetunion“ endete.

 

 

Als der Abend sein Ende fand, unterzeichnete dieser junge Mann einen Aufnahmeschein in die Rote Studentengruppe (die angeblich eine überparteiliche Sammlung aller sozialistisch gerichteten Studierenden sein sollte), Moskau gewann an diesem Abend einen neuen „Rekruten“. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis aus diesem Rekruten ein „brauchbarer Soldat der Weltrevolution“ geworden war.“  **

 

Er kam nach dem Auftritt der „Nieter“ mit den Akteuren ins Gespräch, besuchte sie in ihrem Proberaum im damals 'roten' Barmbek. Er durfte mitmachen, trotz nichtproletarischer Herkunft, im Gegensatz zu den anderen Darstellern war er "so schön bürgerlich", meinte Heinz später. Vor allem konnte er schriftreines Hochdeutsch und so musste er in Aufführungen den Part des bourgeoisen Staatsanwalts spielen, der die aufrechten Proletarier ins Gefängnis warf.  

Ausgabe 1929
Das Kino, seit 1927 der Tonfilm, faszinierte Heinz. Bleibenden Eindruck hinterließ die Uraufführung Eisensteins: „Panzerkreuzer Potemkin" in der Hansestadt. Der Stummfilm wurde 1925 gedreht und ist bis heute wegen seiner Schnittechnik und Dramaturgie berühmt. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Heinz begeistert an die Szene, in der sich der Geschützturm mit seinen riesigen Kanonen auf das Publikum dreht. Ende der 1920er Jahre erschienen in Deutschland auch erstmals Romane, die sich realistisch mit den Schrecken des Ersten Weltkriegs befassten. Heinz gelang es, Ausgaben von Ludwig Renn's „Krieg“ und „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque durch das Dritte Reich zu retten.

 

Auf der Straße nahmen die  Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links in Hamburg, wie im Reich, an Heftigkeit zu. Dabei waren die Fronten nicht immer festgefügt, so wechselten manchmal ganze Gruppen die Seiten. Vor allem in den Organisationen, wie der SA oder dem Rotfrontkämpferbund der KPD suchte man vor allem Leute für den Straßenkampf. Viele waren Arbeitslos und wechselten oft die 'Fahne' - manchmal abhängig davon, wer ihnen einen Teller Suppe bezahlte. Es kam zu immer mehr zu gewalttätigen Demonstrationen auch in Hamburg. Heinz erlebte eines Tages einen linken Aufmarsch, in deren Mitte ein uniformierter Zug sogenannter Marine-SA marschierte. Ihre Hakenkreuzfahne hatten sie groß mit weißer Farbe durchgestrichen. Es gab innerhalb der NSDAP damals Konflikte zwischen SA und Parteiführung, im Schlägertrupp gab es zunehmend Kritik am legalistischen Kurs Hitlers, ebenso missfiel den SA-Männern die Zusammenarbeit mit konservativ-monarchistischen Gruppen.
 
Die Zeiten waren gefährlich, so stieß Heinz bei einer Plakat-Klebetour mit Genossen auf eine SA Streife. Die Nazis attackierten sie sofort und Heinz beschrieb Jahrzehnte später seine Gegenwehr: „Die Hände über dem Kopf und immer schön mit den Füßen gegen die Schienbeine treten.“ Sie hatten Glück, denn in diesem Moment sei einer Polizeistreife um die Ecke gekommen - die SA-Männer suchten das Weite. Für Heinz ging die Sache glimpflich aus – andere hatten da weniger Glück. Jeden Tag las man über schwer Verletzte und Tote bei ähnlichen Konfrontationen.
 
HH-Museum: Kneipe 20er Jahre
Eines Tages saß Heinz zum Essen in einem Lokal, ein SA-Mann kam herein und setzte sich zu ihm an den Tisch, da hier ein Platz frei war. Er sah den SAler kurz an und meinte: „Sie sind aber Mutig“. Auf die Nachfrage, wieso, antwortet Heinz: „Weil ich Jude bin.“ Der SA-Mann glotzte dumm, sprang dann auf und wechselte den Tisch. Heinz sah damals aus, wie sich die NS-Ideologie einen arischen Übermenschen vorstellte: Groß und Blond mit markanten Gesichtszügen. Nach dem 30.Januar 1933 wäre ihm dieser 'Scherz' sicherlich nicht gut bekommen.
 
 
* Der Hamburger Covent Garden wurde 1853 als Veranstaltungszentrum mit Biergarten gegründet. Hier dirigierten Richard Wagner, Bruno Walter, Richard Tauber gab Konzerte und Clara Schumann wie Jascha Heifetz traten als Solisten auf. Auch politische Veranstaltungen fanden hier statt, am 24. Juli 1943 wurde der Covent Garden bei einem alliierten Luftangriff zerstört. Nach dem Krieg ließ Axel-Springer hier sein Verlagshaus bauen.
Der Spielfilm "Kuhle Wampe - wem gehört die Welt" von 1932 zeigt den Auftritt einer solchen Agit-Prop-Gruppe (Auf You Tube) 
** Bemerkenswert neutrale Schilderung, wenn man bedenkt, das er sie 1942 als Mitglied einer Wehrmachts-Propagandakompanie verfasste. Dazu in einem späteren Blogeintrag mehr.  
*** Ausstelungskatalog: Vorwärts und nicht vergessen, Arbeiterkultur in Hamburg 1930 - 1982 

 

 

 

Montag, 11. April 2022

Meine Deutsch-Französische Familie Teil VI

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Revolution - Republik - Krise

 
Der Krieg war vorbei, aber überall in Deutschland bekam man jetzt die Folgen zu spüren. Die Blockade der Entente blieb auch nach Kriegsende im Jahr 1919 bestehen. Das Bürgertum war in den Kriegsjahren verarmt, die verkauften Kriegsanleihen konnte der Staat nicht zurückzahlen. Beides führte zu einer massien Staatsverschuldung und Inflation. In Gronau kam die Wirtschaft nur langsam wieder in Schwung, es wurden für die Niederlande vermehrt Garne produziert und daher arbeiteten viele Gronauer im Nachbarland. Positiver Nebeneffekt, man wurde in Gulden bezahlt und konnte in den Niederlanden damit einkaufen.
 
Bereits im letzten Kriegsjahr hatten an der Grenze Schmuggel und Schwarzhandel geboomt. Auch gutbürgerliche Kreise beteiligten sich, um an begehrte Ware zu kommen. So kleidete sich auch Frieda Ressing an einem Morgen sorgfältig an, mit langem schwarzem Mantel und großem

Hut. Sie nahm den fünfjährigen Heinz an der Hand und machte sich auf den Weg zur nahegelegenen Grenze. In Enschede kaufte sie Kaffee und versteckte ihn unter ihrem Hut. Als sie auf dem Rückweg an der Glaner Brücke vom deutschen Zöllner angehalten wurde, fragte er: "Haben Sie etwas anzumelden?" Frieda nahm allen Mut zusammen: "Nein" - da fragte der kleine Heinz laut: "Aber Mama, warum
trägst Du unter dem Hut die Kaffeetüte?" Frieda erstarrte wie Lots Weib, wurde kalkweiss und stotterte, glücklicherweise hatte der Zöllner seinen sozialen Tag, er lächelte und ließ die Dame aus gutem Hause samt Sprössling passieren. Das war der erste und letzte Versuch der hochmoralischen Frau, etwas über die Grenze zu schmuggeln. Vor allem Kaffee war eine begehrte Ware, manche fuhren regelmäßig mit dem Fahrrad über die Grenze und füllten in Enschede Kaffebohnen in ihre Reifen. Dann kehrten sie mit knirschenden Rädern zurück - und verkauften ihn - brühfertig gemahlen.
 
Auch Gronau wurde von den Unruhen im Reich eingeholt. Man las erschaudernd in der Zeitung von den Kämpfen Anfang 1919 in Berlin, der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie von der Zerschlagung der Münchner Räterepublik. Im März 1920 wollten rechtsgerichtete Militärs und Politiker die Reichsregierung stürzen. Gegen den Kapp-Putsch streikten auch in Gronau die Arbeiter und besetzten die Fabriken. Der Staatsstreich brach nach wenigen Tagen  zusammen, danach zerschlugen die Reichswehr, das Bürgertum und die in Gronau starke katholische Arbeiterbewegung die Besetzung der Fabriken durch revolutionäre Arbeiter. Von dem am 9.November 1923 gescheiterten Putschversuch in Bayern bekam man in Gronau nur am Rande etwas mit - wer war schon dieser Adolf Hitler? Gronau war und blieb eine konservativ-katholische Region, SPD und KPD kamen 1924 zusammen gerade einmal auf 10% der abgegebenen Stimmen (reichsweit waren es 34%). Von der 1923 begonnen Besetzung der linksrheinischen Gebiete und des Ruhrgebietes durch Entente-Truppen blieb Gronau zwar verschont, die Folgen waren aber auch hier zu spüren. 

Bürgerlicher Alltag in der Republik

 
Heinz ging jeden Morgen zur Volksschule, die Jungen warteten nach dem letzten Läuten der Glocke im Klassenraum auf ihren Lehrer. Als er eintrat, grüßten die Schüler stramm und laut. Was dann kam, war den Zeiten geschuldet: "Was kostet heute das Brot? Was kostet die Milch?" fragte der Lehrer. Viele Schüler kamen aus Familien, die in Gronau Lebensmittelgeschäfte hatten.
Nachdem der Lehrer die aktuellen Preise aufgeschrieben hatte, schickte er einen Jungen mit dem Zettel zu seiner Frau, die sofort Einkaufen ging. Die Geldentwertung war rasend schnell, der Preis für ein Brot stieg innerhalb weniger Stunden um einige Millionen Reichsmark.
Für die Regierung  in Berlin war die Inflation praktisch, konnte man doch den defizitären Etat sanieren. Die einst für Reichsmark verkauften Kriegsanleihen und damit die Staatsverschuldung wurde mittels rasender Inflation wertlos. Wer ein Sparkonto bei der Bank hatte, verlor sein Vermögen, für Heinrich Ressing dürfte es in seiner Sparkasse viel Arbeit mit aufgebrachten Kunden gegeben haben. Seine Familie selbst war von der finanziellen Katastrophe anscheinend nicht betroffen. Kurz nach Kriegsende waren die Ressings in ein zweistöckiges Haus in der Bismarckstrasse gezogen. Dem Sparkassendirektor und seiner Familie ging es auch in der Republik weiterhin gut, so konnte man sich weiterhin eine Haushaltshilfe leisten.
 
Wie standen Heinrich und Frieda Ressing zur Weimarer Republik? Der beamtete Sparkassendirektor verhielt sich zumindest loyal. Heinz charakterisierte später einmal sein Elternhaus als „Nationalbürgerlich“. Vater Heinrich tendierte demnach zwischen der liberalen „Deutschen Volkspartei DVP“ (Stresemann) und der rechten „Deutsch-Nationalen Volkspartei DNVP“ (Hugenberg). Die DNVP kämpfte einerseits gegen den Versailler Vertrag, war aber vor allem erzkonservativ und antisemitisch. Damit dürfte der kulturell aufgeschlossene und liberal eingestellten Heinrich wenig übereingestimmt haben. Allerdings waren damals gerade im Bürgertum politische Einstellungen schnell wechselnd. Insgesamt war Politik Männersache, was Frieda dachte ist unbekannt. Heinrich Ressing boten sich jedenfalls in seiner Position Wege, der Inflation ein Schnippchen zu schlagen. So besaß er einen kleinen Goldbarren und damit finanzierte er eine Urlaubsreise für die gesamte Familie auf die Nordseeinsel Norderney. Vater, Mutter, Heinz und die kleine Käthe fuhren gemeinsam mit der
Eisenbahn bis an die Küste und dann per Fähre auf die Insel. Dort hatte Heinrich einem Hotelier den Goldbarren versprochen, im Gegenzug für freie Unterkunft und Verpflegung. Allerdings war der Mann misstrauisch und er tauchte fast jeden Tag am Restauranttisch der Ressings auf, um ihn sich zeigen zu lassen.
 
 

Liberale Bildung im Real-Gymnasium

 

Heinz war ein aufgeweckter Junge und kam Ostern 1922 als Neunjähriger, nach bestandener Aufnahmeprüfung, in die Oberrealschule. Die in Gronau später zum Real-Gymnasium aufgewertete Schule unterschied sich von klassischen Gymnasien, in denen immer noch vor allem Latein und Altgriechisch gelehrt wurden. Heinrich wollte aber, dass sein Sohn moderne Lehrfächer und Sprachen lernt, Englisch und Französisch. Das von der Weimarer Republik eingeführte neue Schulsystem war reformpädagogisch ausgerichtet, dazu gehörte auch die Einbeziehung der Schüler in die Selbstverwaltung. Erstmals in der deutschen Schulgeschichte wurden Klassensprecher und Schülervertretungen gewählt. Den Jugendlichen sollten so demokratische Spielregeln und das Gefühl von Mitverantwortung für die Republik vermittelt werden. Heinz war ein guter Schüler und war drei Jahre lang Klassensprecher. "Politik war nichts für Jugendlich damals" schrieb Heinz rückblickend. Er schloss sich einer der sogenannten 'Wilden Gruppen' an, unorganisierte Jugendliche "Wir gingen (...) auf Fahrt. Mehr wollten wir eigentlich nicht."
 
Im Gronauer Realgymnasium unterrichteten liberal und demokratisch eingestellte Lehrer. Sie wollten die Schüler zu selbstständigem Handeln erziehen, ließen sie über aktuelle Fragen der Zeit diskutieren. Die älteren Schüler durften selber eine Unterrichtseinheit zum Thema: „Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart“ erstellen. Ein Lehrer beeindruckte die Jungen mit Erzählungen über seine Zeit als Kriegsgefangener in Russland – dort hatte er zwischen 1917 und 1922 die Februar- und die Oktoberrevolution miterlebt und den folgenden Bürgerkrieg. Im Frühling 1929 fuhren die 16-jährigen Jungs gemeinsam mit ihrem Lehrer auf Klassenreise nach Großbritannien. Damals lag der blutige Weltkrieg gerade einmal elf Jahre zurück – der Besuch war also wirklich keine Selbstverständlichkeit. Als Heinz zurückkam, erzählte er seiner Schwester Käthe begeistert über seine Erlebnisse. Die Schüler durften das berühmte „Boat Race“, die Regatta zwischen den Rudermannschaften der Universitäten von Cambridge und Oxford vor Ort miterleben - das favorisierte Team aus Cambridge siegte erneut. Schwer beeindruckten Heinz auch die luxuriösen Kinos der britischen Hauptstadt, er schwärmte Käthe von den großen Clubsesseln vor, in denen man versank – manche Leute rauchten während der Vorführung. Diese Eindrücke weckten bei Heinz das Interesse an weiteren Reisen und so radelte er Anfang der 1930er Jahre mit dem Fahrrad in den Schulferien durch die Niederlande, Frankreich und die Schweiz. 
 

Spannungen in der Familie

 
Das Famlienleben verlief mit den Jahren immer weniger harmonisch und der sensible Heinz litt darunter mehr, als seine resolute Schwester Käthe. Er bekam schon als Jugendlicher Magenprobleme und musste noch während der Abiturprüfung in ein Sanatorium nach Elberfeld. Eine Ursache für den Stress waren die wachsenden Konflikte zwischen den Eheleuten - sie waren einfach zu unterschiedlich. Heinrich war ein weltoffener Hallodri und Schürzenjäger. Die pietistische Frieda dagegen eher verklemmt und naiv, nach Käthe Erzählung habe ihre Mutter lange geglaubt, sie könne vom Küssen Kinder bekommen. Eines Tages kam es zu offenem Streit zwischen den Eltern, Frieda rief: "Ich laufe noch davon". Vater Heinrich drohte ein anderes mal, die Familie zu verlassen, worauf seine Frau geschrien habe: "Dann geh' doch!"
 
Zu dem Konflikt zwischen den Eheleuten kam noch ein Mix aus bürgerlicher Wohlanständigkeit und sektiererischer Religiosität. Heinrich und Frieda gehörten der 'Brüderbewegung' an, einer sektenartigen Freikirche, die Katholiken und Protestanten vereinen wollten. Sie hatten weder eine organisierte Kirche, noch Priester, sondern man traf sich regelmäßig zu gemeinsamen Bibelstunden. Dabei sollte jeder die Heilige Schrift wörtlich und  handlungsanweisend befolgen. Platz für jugendliche Freiheit und Expermientieren blieb da den Geschwistern nicht. 
 
Es war im Jahr 1931, Heinz war 18 und Käthe 16 Jahre alt. Eines Abends waren die Eltern zur regelmäßig stattfindenden Bibellesung gegangen und die Geschwister kamen auf die Idee, in den Kleiderschränken ihrer Eltern zu stöbern, um sich zu kostümieren. Heinz zog sich den Frack seines Vaters an und malte sich mit Buntstift ein Blaues Auge. Käthe staffierte sich als 'Lieblingsfrau des Maharadschas' aus und man amüsierte sich vor dem großen Spiegel. Sie vergaßen dabei die Zeit und plötzlich klingelte es an der Tür. In ihrer Kostümierung öffneten sie und standen vor ihren Eltern, die nach Hause gekommen waren. Mutter Frieda blickte die beiden entrüstet an und gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. 
 
Käthe mit 14 Jahren
Heinz liebte seine Schwester, er sagte ihr einmal: „Schade dass Du meine Schwester bist. Dich hätte ich geheiratet!“ Käthe war seine wichtigste Vertraute, der er als einziger Person sein Herz ausschütten konnte. Während sie aber Aufsässig und Widerspenstig war, schluckte er allen Stress herunter. Als Käthe ihn einmal aufforderte, sich gegen die Eltern zu wehren, antwortete er: „Wir müssen warten, bis sie tot sind.“ Heinz wurde mit der Zeit verschlossener – sein einziger richtiger Freund, war der Sohn des Hausarztes – er fiel in Stalingrad.
 
 

 

 

Wetterleuchten

 
Der Ende der 1920 Jahre überall wachsende Antisemitismus scheint bei den Ressings nicht auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Die Stadt hatte 1925 eine kleine jüdische Gemeinde mit 39 Mitgliedern, acht Jahre später war sie auf rund 60 Menschen angewachsen. Etwa 53% der Einwohner waren Evangelisch, 45% Katholisch, 1,6% Mitglieder anderer Religionen und 0,2% jüdischen Glaubens mit eigener Synagoge. In Gronau waren viele Juden Teil der bürgerlichen Honoratioren. Im Jahr 1928 gelang es, nach langen Bemühungen und Spenden, dem jüdischen Zahnarzt Julius de Witt Schützenkönig zu werden. Bei ihm waren auch die Ressings in Behandlung, der Doktor galt als national eingestellter Monarchist. An jedem Feiertag hängte er die Schwarz-Weiß-Rote Fahne des untergegangenen Kaiserreichs aus dem Fenster. Auf einem alten Foto, das mir Käthe einst zeigte, sah ich einen Mann, der stolz den hochgezwirbelten Schnurrbart a la Kaiser Wilhelm trug. 
 
Nach 1933 gelang es Dr. de Witt und seiner Familie in die Niederlande zu entkommen, nach dem deutschen Einmarsch 1940 wurden er mit seiner Frau und der Tochter in ein Vernichtungslager im Osten deportiert. Während die Mutter im nordböhmischen Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben kam, überlebten Vater und Tochter den Holocaust. Die letzten Angehörigen der jüdischen Gemeinde Gronaus wurden 1942 in die Vernichtungslager verschleppt - Widerstand hatte es dagegen nicht gegeben. 
 
Abiturklasse

Im Frühjahr 1931 bereitete sich Heinz auf seine Abiturprüfung vor, dafür verfasste er einen Lebenslauf. Sein Berufswunsch formulierte er so: „Nach meiner Reifeprüfung gedenke ich mich der journalistischen Laufbahn zu widmen.“ Ob Vater und Mutter davon begeistert waren, ist zu bezweifeln - als Seriös galt der Journalismus in bürgerlichen Kreisen gerade nicht. Seinen Traum, eine Karriere als Schiffsoffizier oder Sportlehrer, musste er sich wegen seiner Gesundheitsprobleme aus dem Kopf schlagen, daher wollte er in der Kleinstadt mit ihren damals rund 17.000 Einwohnern, Journalist werden - ohne ganz genau zu wissen was das ist. Dafür stellten ihm im Mai 1932 die „Gronauer Nachrichten“ einen Presseausweis aus. Dort findet sich unter dem Bild des frischen Abiturienten der Satz: „Berichterstatter für die Gronauer Nachrichten“ und somit „berechtigt bei besonderen Veranstaltungen die polizeilichen Absperrlinien zu durchschreiten“. Der Ausweis mit dem Verlags-Logo war durch einen Stempel mit Dienstsiegel der Stadt plus Signatur der örtlichen Polizeiverwaltung offiziell bestätigt. Heinz begann seine journalistische 'Laufbahn' in sehr bewegte Zeiten, die Wirtschaftskrise nach dem US-Börsenkrach 1929 hatte in Deutschland zum Zusammenbruch mehrerer Banken und massiver Arbeitslosigkeit geführt. Überall stieg die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der wachsenden Nazipartei und ihrer SA-Schlägertrupps. Auch in Gronau gab es damals bereits eine Ortsguppe der NSDAP, die sich aber nicht besonders hervortat. 



 
 

 

 
 
 


 
 

Dienstag, 5. April 2022

Meine Deutsch-Französische Familie Teil V

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

 

Verwüstetes Land - Versehrte Menschen

 

1923
Im September 1920 kam Clotaire Aubry nach Saint Benin. der Artillerie-Offizier, dem er als Bursche gedient hatte, bot ihm eine Arbeit in seiner Mühle an der Selle an. Der 24Jährige Clotaire hatte zwar den Krieg überstanden, aber der junge Mann litt an einer zerstörte Lunge. Sie war bei einem deutschen Gasangriff kurz vor Kriegsende verätzt worden. Den Job in der Mühle musste er deshalb bald aufgeben, er wurde Postbote, konnte diese Tätigkeit aber auch nicht lange ausüben. Er kam 1920 als ein von Krankheit Gezeichneter in die von Krieg und Zerstörung betroffene Region. 
 
Saint Benin 2015
Le Cateau war 1914 und 1918 Schauplatz schwerer Kämpfe gewesen. Dazu hatte die deutschen Besatzer vier Jahre lang die Region ausgebeutet. Einwohner wurden zur Zwangsarbeit verschleppt, einige in Lager nach Deutschland, Alte, Frauen und Kinder schoben die Besatzer als 'unnütze Esser' über
Ehrenmal Friedhof Saint Benin
die Schweiz in das unbesetzte Frankreich ab. Nach Kriegsende begann der mühsame Wiederaufbau, den die Deutschen mit den im Versailler Vertrag beschlossenen Reparationen bezahlen sollten. Überall in Nordfrankreich findet man heute noch viele Soldatenfriedhöfe. In Saint Benin hatten die Deutschen beim Rückzug das Viadukt der Eisenbahn, die Mühlen an der Selle sowie viele Häuser - wie auch die Dorfkirche - zerstört. Frankreich fehlten für den Wiederaufbau Arbeitskräfte, über 1,3 Millionen Männer waren gefallen. Daher fand die 20jährige Flore Gaspard schnell eine Beschäftigung und lernte bald ihren späteren Mann kennen. Sie meinte einmal, beide seien vom Patron der Mühle, dem einstigen Vorgesetzten Clotaires,  faktisch verkuppelt worden. 
 
1916-1918
Clotaire Pierre Ernest Aubry wurde am
26. Mai 1896 im kleinen Dorf Avocourt, westlich von Verdun, geboren. Die Familie war drei Jahre vor Kriegsbeginn in das Dörfchen Houdainville, südöstlich von Verdun gezogen. Eine Region, die während des Krieges Frontgebiet war, Clotaire wurde 1916 für das Militär gemustert. Seine Erkennungsmarke für das Handgelenk hatte die Matrikelnummer (658), er wurde als  Soldat 2.ieme Classe eingestuft. Mit 1,76 Metern war er für damalige Verhältnisse groß, hatte dichtes, braunes Haar und ein ovales Gesicht. Er wurde 1916 zum
61.Regiment der Feldartillerie eingezogen. Am 16. September wurde seine Batterie bei Soissons Ziel eines deutschen Gasangriffs. Seine Lunge wurde dadurch auf Dauer geschädigt und war Ursache seines Todes. Zehn Jahre nach Kriegsende erlag Clotaire am 1.September 1928 in einem Hospital im Wallfahrtsort Lourdes den Folgen seiner Gasvergiftung. 
 

Fernande und Flore


Flore 1920
Flore und Clotaire heirateten bald, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Am 15.Februar 1923 kam ihre Tochter Fernande Henriette - meine spätere Mutter - zur Welt. Flore konnte danach keine Kinder mehr bekommen, vielleicht ein Grund, warum sie nach dem Tod ihres Mannes bis zu ihrem Ende 1988 immer alleine gelebt hat. Keine Kinder mehr bekommen zu können, war in damaligen Zeiten ein 'Makel' für Frauen. Die kleine Fernande lernte ihren Vater nur kurz kennen, da sie gerade einmal fünf Jahre alt war, als er starb. Danach lebten Flore und die Tochter gemeinsam mit Flores
Fernande 1930
Vater Henri Gaspard im Haus in der Rue Faidherbe. Nach dem Tod seiner Frau Marie im Jahr 1927 verfiel der Großvater mehr und mehr dem Alkohol. Dabei wurde Henri oft agressiv und gewalttätig, Flore und
 Fernande fürchteten sich vor ihm, wenn er im Vollrausch randalierte - immerhin hatte er immer noch das alte Gewehr aus seiner Militärzeit. Am 15. Juli 1932 starb Herni Gaspard und wurde auf dem Dorffriedhof neben seiner Frau Marie beerdigt. 

Für Flore und Fernande dürfte der Tod Henri Gaspards eine
Paul Gaspard 1930
Befreiung von einem Tyrannen bedeutet haben. Flore musste aber jetzt ihre Tochter und sich alleine durchbringen. Eine Witwenrente für den an den Folgen der Kriegsverletzung gestorbenen Ehemann erhielt sie erst 1968 - monatlich 200 Francs. Sie arbeitete weiter in der Mühle an der Selle und später in der Fabrik für Fliesen und Kacheln von Le Cateau, bis sie 1955 arbeitsunfähig wurde - das Herz machte nicht mehr mit. Ihre ganze Energie widmete sie ihrer Tochter, der sie versuchte, die Wünsche zu erfüllen. Mit dem schmalen Einkommen einer Arbeiterin war das schwer und nach dem Tod von Fernande 1976 meinte Flore einmal bitter, sie habe ihre Tochter zu einer Diva erzogen, die sich für das ärmliche Leben ihrer Mutter geschämt habe. Fernande kam zuerst in die Dorfschule von Saint Benin und profitierte von der Bildungsreform der 1930er Jahre, in der das Schulgeld für höhere Bildung abgeschafft wurde. So erhielt Fernande einen Abschluss, der in etwa der deutschen Mittleren Reife entsprach. Schon als junges Mädchen liebte sie Filme und so lief
Fernande und Flore um 1930
sie fast jedes Wochenede die gut fünf Kilometer zum Kino in Le Cateau. Dieses  Faible für Kino und Filmstars behielt sie ihr ganzes Leben lang. Nach dem Tod des Großvaters 1932 zogen Fernande und Flore in die nordfranzösische Industriestadt Lille. Erst 1946 sollten sie nach Saint Benin zurückkehren. In der Stadt konnte Fernande eine bessere Ausbildung erhalten. Ende der 1930er Jahre erkrankte sie an Tuberkulose und musste zur Kur in ein Sanatorium in den Ardennen - dort wurde sie am 10. Mai 1940 vom Angriff der deutschen Wehrmacht überrascht.
 

Dorfgeschichten - vom Leben und Sterben

 
Dorfschule 2015
Saint Benin war damals mit seinen etwa 500 Einwohnern ein typisches Dorf der Region. Die kleinen Dramen und Geschichten wurden vor allem von den Frauen des Dorfes weitergetragen. Da Flore als sehr gute Köchin bekannt war, wurde sie oft für Familienfeiern engagiert. Dabei wurde gerne getratscht und gelästert, skurrile Geschichten erzählt, die Flore noch Jahrzehnte später gerne zum Besten gab. Ihre Anekdoten aus Saint Benin erinnerten mich an Romane wie 'Krieg der Knöpfe' oder 'Clochemerle'. 
 
Das Dorf hatte zwar eine eigene freiwillige Feuerwehr, die aber lange nicht mehr im Einsatz gewesen war. So stand die handbetrieben Feuerspritze seit Jahren in einer Scheune. Als es dann eines Tages brannte, zogen die


 Männer den Wagen aus der Garage und versuchten zu löschen - aber die Schläuche waren rissig und von Mäusen zefressen - das Wasser spritzte überall heraus, nur nicht, wo es sollte. Irgendwie gelang es dann doch, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen und bei Flore quartierten sich über Nacht Männer als Brandwache ein. Flore meinte dazu, sie hätten vor allem ihren eigenen Brand, also Durst gelöscht. Eine Geschichte wäre fast tragisch geendet, ein Dorfbewohner hatte im Bistro um die Ecke zuviel getrunken und verwechselte - so meinte er später jedenfalls - den Hauseingang. Er landete im Schlafzimmer seines besten Freundes neben dessen Frau und als dieser heimkam, fand er seinen Kumpel schnarchend in seinem Ehebett. Flore erzählte mit Lachtränen in den Augen, es habe eine wüste Schlägerei zwischen den Männern gegeben, bis sich der Irrtum herausgestellt habe. Es ging, wie überall auf dem Land, auch in Saint Benin eben handfest zu. Eines 
Im Hintergrund das Viadukt 2015
Tages wurde ein geschätzter Bewohner zu Grabe getragen. Der Friedhof lag, damals wie heute, direkt an der Bahnstrecke, unweit des Viadukts. Der Bürgermeister sollte die Grabrede halten, aber jedes mal wenn er beginnen wollte, wurde er durch das Rattern vorbeifahrender Züge unterbrochen. Irgendwann platzte ihm der Kragen und er begann laut zu Fluchen - das konnte die Trauergemeinde aber hören, denn in diesem Moment kam kein Zug vorbei. Der einzige, den das nicht gestört haben dürfte, war der Friedhofswärter. Er war hartgesotten und schlief häufiger
seinen Rausch in einer der kleine Grabkapellen aus -  sein Schnarchen dürfte manchen Passanten im Dunkeln erschreckt haben. Auch die große Politik zeigte Spuren im Dorf. Alljährlich kam eine katholische Heiligenprozession mit dem Dorfpfarrer zu einem Platz im Dorf. Genau im Haus gegenüber wohnte eine kommunistische Familie. Die liessen es sich nicht nehmen, den Aufmarsch der Katholiken mit Roten Fahnen und lauter Musik aus dem Grammophon zu 'begleiten'. Viele Dorfbewohner waren Arbeiter der umliegenden Fabriken und für die war klar: 'Man wählt nicht den Patron' - also Konservativ. 
 
Die gläubige Katholikin Flore erzählte uns einige Jahre vor ihrem Tod, man habe vor einiger Zeit den Priester verhaftet, weil er sich als Betrüger herausgestellt habe - und dabei lachte sie. Da die katholische Kirche Frankreichs unter Personalmangel leidet, bereist ein Priester die verschiedenen Dörfer, um in den Kirchen eine Messe zu lesen und später stellte sich heraus, dass er gar kein Geistlicher gewesen war. 
 
Flore wurde nach ihrem Tod am 25.November 1988 mit einer Messe in der Dorfkirche verabschiedet. Dazu kam ein Priester, die Messe musste bezahlt werden und so ging während der Zeremonie mehrfach ein Messdiener mit einer Spendenschale herum. In Frankreich gibt es keine Kirchensteuer und der Volksmund sagt: Wenn Du wissen willst, wie geizig und gläubig die Leute sind, schau dir an, wie der Curé lebt. Flore wurde nach dem Gottesdienst in einem Leichenwagen, voran ein Priester mit Messdienern und gefolgt von uns und einigen ältere Dorfbewohnern, vom Kirchplatz die Dorfstraße hinauf bis zum Friedhof begleitet. Dort wurde sie im dazu geöffneten Familiengrab beigesetzt. Ein vorwinterlicher Tag, an dem es regnete und ein kalter Wind blies.....wie zu dieser Jahreszeit üblich.



 
 



Zur Ausbeutung der Besetzten Gebiete und den Zerstörungen: https://medienfresser.blogspot.com/2016/08/erster-weltkrieg-leben-unter-deutscher.html