Sonntag, 13. Oktober 2019

Hamburg 2019 - Meine Hamburgensien Teil 6: Ottensen = Mottenburg


"Da kriegste ja die Motten" - damit ist gemeint: "ich bin wütend". Mit dem Spruch: 'Die Motten haben' sagte man aber früher auch, wenn jemand an Tuberkulose erkrankt war - typisch für Stadteile, in denen arme Menschen lebten. Als wir Anfang der 1980er Jahre nach Ottensen zogen, einem Stadtteil in Altona, hörte ich bald den Spitznamen des Viertels am Altonaer Bahnhof: "Mottenburg". Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das einstige Dorf schnell zum Industriestandort mit Fabriken und kleinen Werkstätten entwickelt. 


Katalog zur Ausstelllung
Entsprechend elend waren viele der Behausungen, in denen die Arbeiter und ihre Familien wohnen und arbeiten mussten. In feuchten Kellern wickelten Männer, Frauen und Kinder Zigarren, dort erkrankten viele von ihnen an Tuberkulose. Diese Werkstätten wurden damals im Kaiserreich aber zur 'Volkshochschule' der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes. Während im Keller die Zigarren gewickelt wurden, las ein Arbeiter den anderen Artikel aus SPD-Zeitungen und politische Schriften vor. Diese Vergangenheit kann man heute noch an der Bebauung Ottensens erkennen - bürgerliche Wohnhäuser stehen unweit kleiner Werkstätten und ärmlicher Häuschen. Dort wohnten und arbeiteten bis in die 70er Jahre vor allem Arbeiter. Wir zogen Anfang der 1980er in eines der bürgerlichen Häuser in der Eulenstrasse, Ecke Große Brunnenstrasse. Die großen Wohnungen war von der Eigentümerin, die in den noblen Elbvororten wohnte, geteilt worden - das brachte höhere Miete und durch unseren Flur musste immer der Nachbar in seinen Wohnteil laufen. Das Haus, mit der Kneipe 'Vogel' im Erdgeschoss lag an einem der für den Stadtteil typischen dreieckigen Plätze. Damals hatte Ottensen seine industrielle Geschichte bereits hinter sich, das Quartier galt als Sanierungsfall und der SPD-Senat wollte durch das Viertel eine Schnellstraße bauen. Damit sollte die Innenstadt mit den Elbvororten und dem 1974 fertiggestellten neuen Elbtunnel verbunden werden. Dagegen regte sich aber in Ottensen der Widerstand der Bewohner, im Lauf der Jahre waren in das einstige Arbeiterviertel immer mehr junge Leute gezogen, die Wohnungen in den alten Häusern waren billig. Bald entwickelte sich hier eine quirlige Szenerie aus alteingesessenen Arbeitern, Studenten und Migranten, die begannen sich für die Geschichte und den Erhalt des Viertels zu engagieren - es entstand das Stadtteilarchiv, das damals eine Ausstellung zur Geschichte Ottensens organisierte. Diese Ausstellung fand vor allem in Schaufenster oder leerstehende Geschäften statt, alte Einwohern erzählten im Katalog von der Arbeiterbewegung und der Nazizeit im Stadtteil. Auch eine eigene kleine Zeitung wurde regelmäßig produziert und an den Tischen der Bürgerinitiativen und in den kleinen Läden verkauft.

Stadtteilfest bei M&H 1980
Flohmarkt M&H Gelände 1982
Gegenüber unserer Wohung befand sich damals das Gelände der Maschinenfabrik Menck & Hambrock. https://stadtteilarchiv-ottensen.de/angebote-fuehrungen/menschen-hintergruende-qr-codes/noeltingstrasse-am-born/ Die Maschinenfabrik war damals schon Geschichte, 1976 hatte sie Insolvenz anmelden müssen. M&H stellte vor dem Krieg große Bagger her, manche dampfbetrieben. Während des 2.Weltkrieges war die Fabrik ein wichtiges Rüstungsunternehmen der Hansestadt. Dort mussten viele Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Anfang der 80er Jahre war bereits der größte Teil des Werksgeländes planiert worden. Als wir hierher zogen, war man gerade dabei, das alte Verwaltungsgebäude in der Ottensener Hauptstrasse abzureißen. Bald engagierten sich viele Anwohner dafür, dass das Gelände nicht bebaut wird, man forderte einen Park mit Spielplatz für die Ottensener Bevölkerung. Im engbebauten Quartier gab es kaum Grünanlagen oder Raum für Kinder. Es wurden Demonstrationen und Besetzungen des Geländes mit Baumpflanzaktionen und Festen organisiert. Der Kampf
Park und Kemal Altun Platz 2019
gegen die Stadplaner war zumindest teilweise erfolgreich, denn heute befindet sich auf Teilen des Geländes ein Park und der Kemal Altun-Platz https://de.wikipedia.org/wiki/Cemal_Kemal_Altun, benannt nach einem politischen Flüchtling aus der Türkei, der in Berlin aus dem Fenster in den Tod gesprungen war, weil er abgeschoben werden sollte. Ein Teil des M&H-Geländes ist jetzt mit Wohnungen bebaut, am Rand erinnert ein alter Dampf-Bagger an die Industriegeschichte.


Einzige Erinnerung an den alten Bahnhof Altona
Der im neoklassischen Stil des Hauptbahnhofes und des Bahnhofs Dammtor erbaute Fernbahnhof Altona wurde 1974 trotz vieler Proteste der Anwohner durch einen hässlichen Betonklotz samt Kaufhaus ersetzt - heute wird darüber diskutiert, diese Scheußlichkeit abzureißen. Das Kaufhaus ist schon lange Pleite und der Bahnhof ist eines der vielen Beispiele, für die fatale Baupolitik der Senats. Hinter dem Bahnhof beginnt die Fußgängerzone bis zum Spritzenplatz. Das alte Hallenbad ist verschwunden, auch hier halfen Proteste nichts. Wo einst die Hertie-Filiale stand, ist heute eine shopping mall, die aber wirtschaftlich wohl auch vor dem Aus steht. 

Spritzenplatz 2019
 




Der dreieckige Spritzenplatz am Ende der Fußgängerzone - typisch für Ottensen - war und ist das Zentrum des Stadtteils. Hier findet immer noch regelmäßig der Markt statt, auf dem ich früher gerne einkaufte, im Herbst vor allem Äpfel aus dem alten Land. Aber dieser Platz war auch der Ort, an dem Politik auf Wirklichkeit traf. Regelmäßig stellten hier Bürgerinitiativen und Parteien ihre Infostände auf - vor allem während der Hochzeit des Widerstands gegen Atomenergie. Vor Ort wurde agitiert und gestritten, dass die Fetzen flogen. Den Platz prägen heute die Skulpturen zweier Frauen, neben einem kleinen Torbogen. Als ich ihn jetzt in strömendem Regen besuchte, war gerade Markttag, nur eine kommerzielle Gruppe hatte einen Stand aufgebaut - sie sammeln im Auftrag Spenden und werden mit Mindestlohn bezahlt... 

Initiativarbeit vor Ort
Einst Anti-AKW-BI Altona
Zu 'meiner' Zeit informierte die BI-Altona gegen Atomkraft hier regelmäßig die Bevölkerung. Mit Infotisch und Stellwänden gegen die Umweltpolitik der Regierung. Das war bürgernahe Politik zum 'anfassen', ganz ohne Internet oder Mobiltelefon. Unsere 'Ini' hatte damals ein kleines Ladengeschäft an der Straße 'Bei der Reitbahn' angemietet. 
Hier traf man sich wöchentlich, diskutierte und organisierte Aktionen und Büchertische. Daneben lag die griechische Taverne "Sotiris", in der wir oft nach den Treffen bei Ouzo und Suvlaki versackten. Der Besitzer erzählte mal, er vertrage das heiße Wetter in Griechenland nicht. Da war er in Ottensen gut gelandet, vor allem im Winter wurde es, wegen der nahegelegenen Elbe, hier ziemlich kalt. Manchmal erwachte man morgens und der Blick aus dem Fenster bot nur milchigen Nebel. In der Ferne hörte man die Nebelhörner der Schiffe auf der Elbe. 

Es war in den 80ern viel los in Ottensen, eine bewegte Zeit, eine Menge Leute engagierte sich für Politik. Das Stadtteilarchiv gibt es glücklicherweise heute noch. Damals versuchte es das Areal der Zeisefabrik, die einst in der Friedensalle die mächtigen Schiffsschrauben für Ozendampfer produziert hatte und 1979 in Konkurs gegangen war, vor dem Abriss zu retten. Man wollte es als "Museum der Arbeit"  erhalten. Die Zeisehallen stehen immer noch, heute befinden sich hier Film- und Medienunternehmen, ein Kino, ein Restaurant und kleine Läden sowie ein Kindergarten. 



Diese
Eingang zur Zeisehalle
Entwicklung stößt im Stadtteil nicht nur auf Zustimmung, viele Altbewohner befürchten eine 'Gentrifizierung' Ottensens - also die Verdrängung ärmerer Bewohner zugunsten kaufkräftiger Schichten. Immer stärker wird das Quartier für dieses Milieu attraktiv. Bei meinem Besuch hatte sich auf den ersten Blick nicht viel verändert, auf den Zweiten fiel mir aber das Publikum in der 'Zeise' auf, das eher nach Elbchaussee als nach Mottenburg aussah. Allerdings haben sich auch viele Einwohner seit den 80er Jahren verändert - Vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer.



Revolutschon in Ottensen? Der Lack ist ab
Zurückgekehrt zum Spritzenplatz erinnerte ich mich an den kleinen Zeitungsladen, in dem damals zwei ältere Hamburger Deerns alles, von Bild, Abendblatt und Morgenpost bis zu linken Zeitungen verkauften. Sie hatten immer einen lockeren Spruch drauf - heute Geschichte. Jetzt ist hier ein Handyladen. Auch das 'Sotiris' zog von der Reitbahn weg in die Barnerstrasse und muss jetzt dort weichen, denn das Haus wird abgerissen. Das 'Sotiris' war schon ein Markenzeichen Ottensens, später las ich in einem Interview, dass auch Fatih Akin hier oft einkehrt. 

Pikant, das Eckhaus in der Barnerstrasse - unweit der legendären 'Fabrik' - beherrbergte in den 1970er Jahren im Dachgeschoss die NPD-Geschäftsstelle Hamburgs. Auch in der Ottensener Hauptstrasse gab es damals einen 'braunen Fleck', hier hatte ein Händler mit Orden und NS-Devotionalien einen kleinen Laden
- aber das war in den 80ern alles vorbei. Einen wichtigen Anteil an der 'alternativen' Entwicklung Ottensens hatte das Veranstaltungszentrum 'Fabrik' in der Barnerstrasse. Sie ist seit 1971 noch ein beliebter Ort für Konzerte, dabei wissen die wenigsten, dass das alte Gebäude der Maschinenfabrik 1977 komplett abbrannte. Hier habe ich viele Abende verbracht, sah Udo Lindenberg noch als Schlagzeuger von Klaus Doldingers 'Passport' und andere Jazzgrößen. Das Plakat am Eingang der Fabrik fand ich sehr aktuell. 





Ein paar hundert Meter weiter, im Nernstweg, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein - mich
jedenfalls hat das gefreut. Hier steht immer noch die 'Werkstatt III' ein Treffpunkt vieler Initiativen und Veranstaltungsort samt Kneipe mit gutem Essen. 

Auch das kleine Kellerbüro des Vereins "Rettet die Elbe" existiert immer noch. In den 80iger Jahren war Ottensen 'voll Links' - diverse Gruppen und Parteien waren im Stadteil aktiv- auch die SPD versuchte mit ihrem Stadteilbeauftragten ihren abnehmenden Einfluss zu
Demo 1980 wegen Verkehrsberuhigung vor unserer Wohnung
halten. Die Abriss- und Sanierungspolitik des SPD-Senats stand dem allerdings entgegen,  Umweltschutz und Verkehrsberuhigung interessierten auf Dauer dann mehr, als der 'Klassenkampf'.  Konkurrenz und Streit zwischen DKPlern, K-Gruppen und 'Autonomen' waren manchmal bizarr. Die Filiale der Hamburger Sparkasse am Spritzenplatz war wohl die am häufigsten demolierte Niederlassung in der Hansestadt. Regelmäßig kamen hier Demonstrationen vorbei und manch ein  'Straßenkämpfer mit Hasskappe' nutzte das zum Angriff auf die Fenster des HASPA - während ich um mein Schließfach im Keller bangte. 




Meine Revival-Tour führte mich durch die Ottensener Hauptstrasse und neben der Apotheke stieß ich auf eine graue Plakette mit Inschrift. Sie erinnerte an den Arzt, Claus Jürgen Carstensen, der eine der ersten Gemeinschaftspraxen eröffnet hatte. Ich blieb gerührt stehen, mit Claus hatte ich in den 80ern für kurze Zeit gemeinsam  Musik gemacht. Er hatte in einem Hinterhaus, das ihm gehörte, das Dach zum Übungsraum ausgebaut und war als Saxophonist ein ausgewiesener Jazzkenner (Charlie Parker). Seine Gemeinschaftspraxis war eine Anlaufstelle gerade für ärmere Bewohern des Stadtteils. Er hatte den typisch harten Humor vieler Ärzte, als wir an einem Abend beim 'Sotiris' saßen, bestellte er Fleisch mit der Bemerkung, er brauche wegen seiner Erkältung jetzt Antibiotika - ich schaute zuerst dumm, bis ich begriffen hatte. Einmal meinte er: "Also wenn ich mal auf der Straße umfalle habe ich in der Tasche einen Zettel: Liegen Lassen!" - nun ist auch er Teil der Geschichte geworden - über das Gedenken an ihn habe ich mich sehr gefreut. 

Ja es war damals hier schon einiges los, so spielte die Story des in der linken Szene belliebte Frauenbuchs "Das Ende des Märchenprinzen" über eine verkorkste linksalternative Beziehung, vor unserer Tür. Der Protagonist war ein autonom angehauchter Typ der Anti-AKW-BI, die Autorin frauenengagiertes Mitglied des KB (Kommunistischer Bund) Damals war das Buch eine Abrechnung mit 'alternativen' Machos, später konnte ich aber auch über die Ansichten der Autorin nur den Kopf schütteln. Gegenüber unserer Wohnung war der Ottensener Frauenladen, da ging auch meine damalige Freundin ein und aus. Wie dem auch sei, in Ottensen brodelte es jedenfalls, hier war immer was los - und das nicht nur im positiven Sinne. Eines Abends hörte ich einen lauten Knall und rannte zum Fenster, neben dem 'Sotiris' war im vierten Stock gerade jemand dabei, seine Wohnungseinrichtung durch die geschlossenen Fenster auf die Straße zu werfen - glücklicherweise wurde unten niemand getroffen. Kaputte Leute und Drogenabhängige gab es hier auch, als ich eines morgens zur Uni radeln wollte und mein Fahrrad aus dem BI-Laden holte, wurde neben mir die Haustür aufgerissen. Ein Mann stürzte heraus und rannte die Staße hinunter, Sekunden später kam ein anderer mit einem Messer in der Hand hinterher - da hatte wohl jemand schlechten Stoff verkauft.

Auf dem Weg die Ottensener Hautpstrasse entlang sah ich das Schaufenster der Ottenser "Druckwerkstatt". Einst ließen hier Inititativen Flugblätter und Broschüren drucken. Heute verkauft das Geschäft vor allem Schmuckpapier und originelle Souveniers über Hamburg und Altona. Ich klönte etwas mit der Frau hinterm Tresen über alte Zeiten, sie meinte, den Laden werde man wohl bis zur Rente noch halten können, dann sei es aber vorbei damit. Schräg gegenüber ging ich in die Bäckerei, in der ich schon früher eingekauft hatte, dort orderte ich mir zwei hanseatische Spezialitäten: Rumkugel und Franzbrötchen. Es machte Spaß mit der jungen Bedienung darüber zu plaudern - sie war nett zu dem alten Knaben mit weißem Haar. Gegenüber im Keller hatte einst der erste Bioladen in Ottensen eröffnet, der Betreiber war unter strammen 'Linken' etwas suspekt - war er doch anscheinend Anhänger Bhagwans.

Vor diesem Besuch des Stadtviertels, der für mich prägend war, hatte ich mich am meisten vor meinem Hamburg-Trip gefürchtet. Würde ich noch etwas wiedererkennen, würde mich die Altersmelancholie und/oder Sehnsucht überkommen. Zum Glück: Ich konnte mich einfach freuen, dort zu sein. Es gelang mir, mich mit einer Studienkollegin zu einem Kaffelklatsch zu treffen. Wir saßen in einem Kaffee-Pavillon gegenüber meiner alten Wohnung und plauderten über alte Zeiten. Die junge Bedienung fragte mich, als sie hörte dass ich in Stuttgart lebe, wie die Leute da seien. Es entwickelte sich ein Gespräch über das Schwabenland und seine 'Metropole' - aber darüber schweige ich lieber.    

...ja die Nostalgie überkam auch mich....

    





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