"Da kriegste ja die Motten" - damit ist gemeint: "ich bin wütend". Mit dem Spruch: 'Die Motten haben' sagte man aber früher auch, wenn jemand an Tuberkulose erkrankt war - typisch für Stadteile, in denen arme Menschen lebten. Als wir Anfang der 1980er Jahre nach Ottensen zogen, einem Stadtteil in Altona, hörte ich bald den Spitznamen des Viertels am Altonaer Bahnhof: "Mottenburg". Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das einstige Dorf schnell zum Industriestandort mit Fabriken und kleinen Werkstätten entwickelt.
Katalog zur Ausstelllung |
Stadtteilfest bei M&H 1980 |
Flohmarkt M&H Gelände 1982 |
Park und Kemal Altun Platz 2019 |
Einzige Erinnerung an den alten Bahnhof Altona |
Spritzenplatz 2019 |
Der dreieckige Spritzenplatz am Ende der Fußgängerzone - typisch für Ottensen - war und ist das Zentrum des Stadtteils. Hier findet immer noch regelmäßig der Markt statt, auf dem ich früher gerne einkaufte, im Herbst vor allem Äpfel aus dem alten Land. Aber dieser Platz war auch der Ort, an dem Politik auf Wirklichkeit traf. Regelmäßig stellten hier Bürgerinitiativen und Parteien ihre Infostände auf - vor allem während der Hochzeit des Widerstands gegen Atomenergie. Vor Ort wurde agitiert und gestritten, dass die Fetzen flogen. Den Platz prägen heute die Skulpturen zweier Frauen, neben einem kleinen Torbogen. Als ich ihn jetzt in strömendem Regen besuchte, war gerade Markttag, nur eine kommerzielle Gruppe hatte einen Stand aufgebaut - sie sammeln im Auftrag Spenden und werden mit Mindestlohn bezahlt...
Initiativarbeit vor Ort |
Einst Anti-AKW-BI Altona |
Hier traf man sich wöchentlich, diskutierte und organisierte Aktionen und Büchertische. Daneben lag die griechische Taverne "Sotiris", in der wir oft nach den Treffen bei Ouzo und Suvlaki versackten. Der Besitzer erzählte mal, er vertrage das heiße Wetter in Griechenland nicht. Da war er in Ottensen gut gelandet, vor allem im Winter wurde es, wegen der nahegelegenen Elbe, hier ziemlich kalt. Manchmal erwachte man morgens und der Blick aus dem Fenster bot nur milchigen Nebel. In der Ferne hörte man die Nebelhörner der Schiffe auf der Elbe.
Es war in den 80ern viel los in Ottensen, eine bewegte Zeit, eine Menge Leute engagierte sich für Politik. Das Stadtteilarchiv gibt es glücklicherweise heute noch. Damals versuchte es das Areal der Zeisefabrik, die einst in der Friedensalle die mächtigen Schiffsschrauben für Ozendampfer produziert hatte und 1979 in Konkurs gegangen war, vor dem Abriss zu retten. Man wollte es als "Museum der Arbeit" erhalten. Die Zeisehallen stehen immer noch, heute befinden sich hier Film- und Medienunternehmen, ein Kino, ein Restaurant und kleine Läden sowie ein Kindergarten.
Diese
Eingang zur Zeisehalle |
Revolutschon in Ottensen? Der Lack ist ab |
Pikant, das Eckhaus in der Barnerstrasse - unweit der legendären 'Fabrik' - beherrbergte in den 1970er Jahren im Dachgeschoss die NPD-Geschäftsstelle Hamburgs. Auch in der Ottensener Hauptstrasse gab es damals einen 'braunen Fleck', hier hatte ein Händler mit Orden und NS-Devotionalien einen kleinen Laden
- aber das war in den 80ern alles vorbei. Einen wichtigen Anteil an der 'alternativen' Entwicklung Ottensens hatte das Veranstaltungszentrum 'Fabrik' in der Barnerstrasse. Sie ist seit 1971 noch ein beliebter Ort für Konzerte, dabei wissen die wenigsten, dass das alte Gebäude der Maschinenfabrik 1977 komplett abbrannte. Hier habe ich viele Abende verbracht, sah Udo Lindenberg noch als Schlagzeuger von Klaus Doldingers 'Passport' und andere Jazzgrößen. Das Plakat am Eingang der Fabrik fand ich sehr aktuell.
Ein paar hundert Meter weiter, im Nernstweg, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein - mich
jedenfalls hat das gefreut. Hier steht immer noch die 'Werkstatt III' ein Treffpunkt vieler Initiativen und Veranstaltungsort samt Kneipe mit gutem Essen.
Auch das kleine Kellerbüro des Vereins "Rettet die Elbe" existiert immer noch. In den 80iger Jahren war Ottensen 'voll Links' - diverse Gruppen und Parteien waren im Stadteil aktiv- auch die SPD versuchte mit ihrem Stadteilbeauftragten ihren abnehmenden Einfluss zu
Demo 1980 wegen Verkehrsberuhigung vor unserer Wohnung |
Meine Revival-Tour führte mich durch die Ottensener Hauptstrasse und neben der Apotheke stieß ich auf eine graue Plakette mit Inschrift. Sie erinnerte an den Arzt, Claus Jürgen Carstensen, der eine der ersten Gemeinschaftspraxen eröffnet hatte. Ich blieb gerührt stehen, mit Claus hatte ich in den 80ern für kurze Zeit gemeinsam Musik gemacht. Er hatte in einem Hinterhaus, das ihm gehörte, das Dach zum Übungsraum ausgebaut und war als Saxophonist ein ausgewiesener Jazzkenner (Charlie Parker). Seine Gemeinschaftspraxis war eine Anlaufstelle gerade für ärmere Bewohern des Stadtteils. Er hatte den typisch harten Humor vieler Ärzte, als wir an einem Abend beim 'Sotiris' saßen, bestellte er Fleisch mit der Bemerkung, er brauche wegen seiner Erkältung jetzt Antibiotika - ich schaute zuerst dumm, bis ich begriffen hatte. Einmal meinte er: "Also wenn ich mal auf der Straße umfalle habe ich in der Tasche einen Zettel: Liegen Lassen!" - nun ist auch er Teil der Geschichte geworden - über das Gedenken an ihn habe ich mich sehr gefreut.
Ja es war damals hier schon einiges los, so spielte die Story des in der linken Szene belliebte Frauenbuchs "Das Ende des Märchenprinzen" über eine verkorkste linksalternative Beziehung, vor unserer Tür. Der Protagonist war ein autonom angehauchter Typ der Anti-AKW-BI, die Autorin frauenengagiertes Mitglied des KB (Kommunistischer Bund) Damals war das Buch eine Abrechnung mit 'alternativen' Machos, später konnte ich aber auch über die Ansichten der Autorin nur den Kopf schütteln. Gegenüber unserer Wohnung war der Ottensener Frauenladen, da ging auch meine damalige Freundin ein und aus. Wie dem auch sei, in Ottensen brodelte es jedenfalls, hier war immer was los - und das nicht nur im positiven Sinne. Eines Abends hörte ich einen lauten Knall und rannte zum Fenster, neben dem 'Sotiris' war im vierten Stock gerade jemand dabei, seine Wohnungseinrichtung durch die geschlossenen Fenster auf die Straße zu werfen - glücklicherweise wurde unten niemand getroffen. Kaputte Leute und Drogenabhängige gab es hier auch, als ich eines morgens zur Uni radeln wollte und mein Fahrrad aus dem BI-Laden holte, wurde neben mir die Haustür aufgerissen. Ein Mann stürzte heraus und rannte die Staße hinunter, Sekunden später kam ein anderer mit einem Messer in der Hand hinterher - da hatte wohl jemand schlechten Stoff verkauft.
Auf dem Weg die Ottensener Hautpstrasse entlang sah ich das Schaufenster der Ottenser "Druckwerkstatt". Einst ließen hier Inititativen Flugblätter und Broschüren drucken. Heute verkauft das Geschäft vor allem Schmuckpapier und originelle Souveniers über Hamburg und Altona. Ich klönte etwas mit der Frau hinterm Tresen über alte Zeiten, sie meinte, den Laden werde man wohl bis zur Rente noch halten können, dann sei es aber vorbei damit. Schräg gegenüber ging ich in die Bäckerei, in der ich schon früher eingekauft hatte, dort orderte ich mir zwei hanseatische Spezialitäten: Rumkugel und Franzbrötchen. Es machte Spaß mit der jungen Bedienung darüber zu plaudern - sie war nett zu dem alten Knaben mit weißem Haar. Gegenüber im Keller hatte einst der erste Bioladen in Ottensen eröffnet, der Betreiber war unter strammen 'Linken' etwas suspekt - war er doch anscheinend Anhänger Bhagwans.
Vor diesem Besuch des Stadtviertels, der für mich prägend war, hatte ich mich am meisten vor meinem Hamburg-Trip gefürchtet. Würde ich noch etwas wiedererkennen, würde mich die Altersmelancholie und/oder Sehnsucht überkommen. Zum Glück: Ich konnte mich einfach freuen, dort zu sein. Es gelang mir, mich mit einer Studienkollegin zu einem Kaffelklatsch zu treffen. Wir saßen in einem Kaffee-Pavillon gegenüber meiner alten Wohnung und plauderten über alte Zeiten. Die junge Bedienung fragte mich, als sie hörte dass ich in Stuttgart lebe, wie die Leute da seien. Es entwickelte sich ein Gespräch über das Schwabenland und seine 'Metropole' - aber darüber schweige ich lieber.
...ja die Nostalgie überkam auch mich.... |
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