Montag, 11. September 2023

Nordfrankreich - So viel Geschichte....

Saint Benin - Tal der Selle

 

 

Das 'Departement Nord' ist Teil der Region "Hauts de France" und verläuft entlang der Grenze zur Belgien - von der Kanalküste bei Dünkirchen bis zu den Ardennen im Süden. Mit 2,6 Millionen Menschen ist das Departement bevölkerungsreicher als die Stadt Paris. Die Hauptstadt Lille ist ein Verkehrsknotenpunkt in west-östlicher- und nord-südlicher Richtung. Das Arrondissement Cambrai im Südwesten war immer wieder Schauplatz blutiger Kämpfe - seit den Römern. Besonders leiden musste die Region im Ersten Weltkrieg, nach 1918 lagen die Städte und Dörfer größtenteils in Trümmern. Heute noch zeugen die vielen Soldatenfriedhöfe von dieser Vergangenheit. Bis in die 1960er Jahre war das Départements Nord, zu dem Cambrai gehört, ein wichtiger Industriestandort. Handelswege, Kohle- und Textilindustrie prägten sie, aber dann begann - ähnlich wie im Ruhrgebiet - der Niedergang. 'Zechensterben' und das Ende der Textilfabriken, viele Arbeitsplätze gingen verloren. Die Gegend verarmte - und das gilt auch heute noch. 

Le Cateau - Rathausturm - Parc Fénelon

 

 

Namen wie Somme, Aisne oder Picardie sind heute noch symbolträchtig für den blutigen Stellungskrieg zwischen 1914-1918. Mein französischer Familienzweig stammt aus dem Kanton Le-Cateau-Cambrésis, das zum Arrondissements Cambrais gehört - unweit der Belgischen Grenze bei Mons. 

Meine Mutter wurde 1923 im kleinen Dorf Saint Benin geboren, die etwa zwei Kilometer entfernt von der 7000 Einwohner zählenden Kleinstadt Le Cateau (flämisch: Kamerijkskasteel) liegt. Eine Landschaft die im Sommer durch seine weiten, wellenartigen Felder beeindruckt, im Winter wird es aber hier durch Nebel, Regen und Schnee ziemlich kalt, nass und düster. Dies ist ein Grund dafür, dass viele Bauernhöfe und Häuser mit hohen Mauern umgeben sind -  wie kleine Festungen.

Bahn-Viadukt bei Saint Benin - Am Horizont Britischer Soldatenfriedhof zwischen den Bäumen

 

Le Cateau

 

Die heute rund 7000 Einwohner leben in einer von der Geschichte und den Weltkriegen geprägten Stadt. Schon zur römischen Zeit kreuzten sich Handelswege, 1559 schlossen der französische König und Spanien den Frieden von Cateau-Cambresis. Nach der Revolution 1789 lagen in der Stadt österreichische Truppen und nach Napoleons Sturz zwei Jahre lang russische Soldaten. 
 

Am schlimmsten erging es dieser Region aber im Ersten Weltkrieg. Im August 1914 und Oktober 1918 wurde Le Cateau vollständig zerstört. Danach baute man die Stadt im alten Stil - wie 1914 - wieder auf. Textilien waren Jahrhunderte lang die Quelle des Wohlstandes des am Fluss Selle gelegenen Le Cateau und seines Umlandes. Vom wirtschaftlichen Niedergang der 1960er Jahre wurden der Ort und seine Umgebung schwer getroffen. In Dörfern und in Le Cateau stehen überall Schilder: "A Vendre" vor leerstehende Häusern auch viele Geschäfte in der Stadt stehen schon seit Jahren leer - manche Häuser verfallen. Außerhalb sieht man Industriegebiete und große Supermärkte - Dörfer wirken dagegen oft menschenleer.
 
Aber in den letzten Jahren hat man zumindest für das Ortsbild
Le Cateaus viel getan. Der einst von parkenden Autos besetzte Marktplatz vor dem Rathaus ist verkehrsberuhigt, die Hauptstraße im Zentrum nur in eine Richtung befahrbar und vor dem Palais Fénelon ist ein Platz mit einem Springbrunnen entstanden. Weltweit bekannt wurde Le Cateau durch den Maler und Bildhauer Henri Matisse, der hier geboren wurde (1869-1954). Durch eine große Spende ermöglichte er, kurz vor seinem Tod, der Stadt das Museum - heute im Umbau. Ein Touristen-Higlight über die Region hinaus. Hundert Meter entfernt steht am Marktplatz auf einem Sockel Napoleons Marschall Éduard Mortier - eine weitere Berühmtheit der Stadt. Er war 1806 nach der Besetzung durch napoleonische Truppen der Kommandant meiner Heimatstadt Hamburg.   
 
Parc Fénelon - Museum Matisse im Umbau


Saint Benin

 

Unweit von Le Cateau liegt das kleine Dorf Saint-Benin - hier wurde 1923 meine Mutter geboren. Die Familie Gaspard - Aubry hat heute noch auf dem kleinen Friedhof ein Familiengrab. Hier liegen meine Urgroßeltern, mein Großvater und meine Großmutter Flore
Daneben sind auf einem Obelisk die Namen der im ersten Weltkrieg Gefallenen der Gemeinde aufgelistet. Der Name meines Großvaters, Clotaire Aubry, findet sich hier. Er war an der Lunge 1916 bei Soissons durch einen deutschen Gasangriff verwundet worden und starb 1928 an den Folgen in einem Krankenhaus in Lourdes. Auch das Dorf selbst wurde im Weltkrieg schwer zerstört - meine Großmutter Flore erlebte als 14Jährige am 26. August 1914 in ihrem Dorf die blutige Schlacht zwischen Briten und Deutschen um Le Cateau (https://1913familienalbum.blogspot.com/2014/08/le-cateau-1914-der-krieg-kommt-zu.html). Vor der Dorfkirche
hängt eine Gedenktafel für die Opfer des Ersten Weltkrieges - der Name meines Großvaters fehlt hier. Er kam erst in den 1950er Jahren auf den Friedhofs-Obelisk -Clotaire war nicht in Saint Benin geboren, kam aus der Gegend von Verdun nach dem Krieg.  Bezeichnend ist, dass die Zahl der zivilen Opfer Saint Benins genauso hoch war, wie die, der im Krieg gefallenen. Im Sommer 1914 lebten hier etwa 800 Menschen - der Blutzoll des Dorfes war hoch - nach Kriegsende fehlte eine ganze Generation heiratsfähiger Männer. Heute hat der Ort rund 350 Einwohner. https://1913familienalbum.blogspot.com/2021/11/meine-deutsch-franzosische-familie-teil_29.html
 
Britischer Soldatenfriedhof - Blick auf Saint Benin

Die schweren Kämpfe im Oktober 1918 forderten unter den britischen und australischen Soldaten viele Opfer - davon zeugen heut noch die Soldatenfriedhöfe rund um Le Cateau. Ihre Gräber werden immer noch gepflegt, ein Blick in die Grabbücher zeigt. dass heute noch Nachfahren der Gefallenen sie besuchen. In Le Cateau gibt es auch einen deutschen Soldatenfriedhof - während der Besatzungszeit hatte es hier ein großes Lazarett gegeben. Hier finden sich auch einige Gräber russischer Soldaten, die als Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten mussten - sie waren an Krankheiten und Entbehrungen gestorben.
 
 
 
 Bei unserem Besuch am 26. August 2023 - am 109. Jahrestag der Schlacht - damals wie heute ein sonniger Tag - wirkte die Gegend ländlich und ruhig - auf den Feldern grasten Kühe. Sie muhten uns Besuchern des Dorffriedhofes neugierig an. Nur das französische Denkmal und britische Soldatengräber erinnerten an die traurige Vergangenheit. 

Saint Benin wirkt heute, wie schon in meiner Kindheit, auf Besucher verschlossen und Abweisend. Aber so sehen viele Dörfer der Region aus. In Saint Benin wurden in den letzten Jahren der Platz vor der Kirche, die alte Schule und das kleine Bürgermeisteramt renoviert. Auf dem alten Friedhof, direkt neben der Bahnstrecke und dem Viadukt über die Selle, liegen meine französischer Vorfahren im Familiengrab: Gaspards/Hannappes
Hier ging meine Mutter einst zur Schule

(Ur-Großeltern) und Aubry (Großeltern). Im Gegensatz zu deutschen Friedhöfen, deren Gräber regelmäßig verlängert werden müssen - sonst werden sie eingeebnet - gibt es hier neben gepflegten auch verfallene Grabstellen - der Ewigkeit überlassen. 

 

 

Friedhof Saint Benin


 

Guise

 

Unweit von Le Cateau - auf halbem Weg nach Saint Quentin liegt das Städtchen Guise mit knapp 5000 Einwohnern. Ein großer Wehrturm auf den Ruinen einer Festung aus der Epoche Ludwigs XIV. erbaut von Vauban, dem berühmtesten  Festungsbaumeister seiner Zeit - überragt das Stadtbild. Nach der Schlacht von Le Cateau am 26. August 1914 kam es zwei Tage später hier und südlich bei Saint Quentin zum erneuten Kampf. Die Festung wurde nach dem Sieg von deutschen Truppen jahrelang besetzt und am Ende des Krieges schwer zerstört. Man überließ die Ruinen lange Zeit dem Verfall, nutzte sie sogar dazu, um Schutt abzuladen.
Eingang zur Festung
Erst 1952 wurde mit der Restaurierung der Anlage begonnen, auf Initiative von Maurice Duton, Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzung. Er gründete eine Initiative, in der junge Menschen die alte Festung restaurierten, die alten Kasematten wieder begehbar machten - das Jugendprojekt ist heute noch aktiv - auch an anderen Standorten. Bei unserem Besuch standen auf dem Gelände die Zelte der jungen Leute , die den Sommer über arbeiteten. Kein Vergnügen, denn die unterirdischen Gemäuer sind kalt,
feucht und düster. Bei den Ausgrabungen gefundene Gegenstände werden in einer Kasematte ausgestellt - so ein französisches 75mm Feldgeschütz aus dem Ersten Weltkrieg und ein altes Maschinengewehr. In einem kleinen Shop kann man ein Infoheft über die Festung erwerben - leider nur in Französisch und Englisch - aber informativ.

Guise ist aber nicht nur durch die alte Festung und den Weltkrieg bekannt. Einst herrschten hier die Herzöge von Guise, der bekannteste, lieferte 1422 Johanna von Orleans an die Engländer aus - die sie dann verbrannten. Der Sohn der Stadt, Camille Desmoulin, war einer der großen Revolutionäre von 1789. Der radikale Republikaner, der den Tod Ludwigs XVI. forderte, fiel später selber dem Terror Robespierres zum Opfer und landete auf dem Schafott.
 
Mitten im Ort steht eine großer Gebäudekomplex, der wie eine kleine Ausgabe von Versailles aussieht, aber erst in den 1860er Jahren erbaut wurde. Das 'Familistère de Guise' wurde von Jean Baptiste André Godin - einem sozial engagierten Fabrikbesitzer - für seine Arbeiter gegründet.  Drei Wohnpavillions, mit damals insgesamt 500 Wohnungen, dazu zwei Schulen, ein Kindergarten, ein Bade- und Waschhaus sowie Geschäfte - von den Bewohnern selbst bewirtschaftet - ein Theater samt Gartenanlage, waren damals ein utopisches Sozialprojekt. Und es existiert heute noch - einige Wohnungen sind noch bewohnt, man kann ein eigenes  Museum besichtigen.

Saint Quentin

 

Rathaus Saint Quentin


Unweit von Guise liegt Saint Quentin (53.000 Einwohner), die Stadt liegt an der Somme und wurde im ersten Weltkrieg zu 70% zerstört. Bereits im Krieg 1870/71 hatte die Stadt gelitten, als der französische General Faidherbe versuchte, durch einen erfolglosen Angriff auf die deutschen Truppen, das damals belagerte Paris zu entlasten. Trotz der massiven Zerstörungen im Ersten Weltkrieg zeugen immer noch das spätgotische Rathaus (1509) und die Basilika (12. - 15. Jahrhundert) von der einstigen Größe der Stadt. 
 
Der Wiederaufbau nach 1918 wurde zentral organisiert, damit entstand das neue Saint Quentin vorwiegend im Art-Deco-Stil der 1920er Jahre. In dieser Konzentration in Frankreich ziemlich einmalig. In der Basilika kann man an eingen Wänden einige, leider ziemlich verblichene Malereien aus dem Mittelalter sehen.
 
Saint Quentin -Grand Place

 
Art Deco auch in Guise...

 

Sedan und das Museum der 'dernières Cartouches' 

 

Auf der Strecke von Le Cateau über La Capelle und Hirson Richtung Deutschland liegt die Stadt Sedan. Mit seinen rund 16.000 Einwohnern, am Fluss Maas gelegen, nur wenige Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Hier wurde am 2. September 1871 Kaiser Napoleon III. mit 100.000 seiner Soldaten eingekesselt und von den Deutschen gefangen genommen. Das Deutsche Reich entstand und Frankreich wurde endgültig zur Republik. Im Jahr 1940 kamen deutsche Soldaten erneut, sie brachen damals durch die belgischen und französischen Ardennen, das hatte den Zusammenbruch der französisch-britischen Front zur Folge und führte zur Kapitulation Frankreiches im Sommer 1940. 
 
Mit seinen etwas mehr als 16.000 Einwohnern scheint die
Festung Sedan
Stadt ihre großen Zeiten hinter sich zu haben. Auch hier dürfte die Krise der Textilindustrie in Nordfrankreich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Belgische Grenze ist nur wenige Kilomer von Sedan entfernt. Größte Sehenswürdigkeit ist die alte Burganalage aus dem 15. Jahrhundert und eine alte Synagoge. Die Festung beherrbergt heute ein Hotel und das Tourismus-Büro
 
Das Museum der letzten Patrone

 
Wenige Kilometer entfernt liegt das Dorf Bazeilles. Hier versuchten am 1. September 1871 französische Marineinfanteristen den Anstrum bayerischer Truppen und die Niederlage aufzuhalten - vergeblich. Bei dem blutigen Gefecht wurden 2655 Marinesoldaten getötet oder vewundet, auf bayerischer Seite zählte man 4089 Opfer. Als den Marinesoldaten die Munition ausging flüchteten sie, oder ergaben sich. Heute befindet sich das Museum "La dernières Cartouche". Bei meinem letzten Besuch Ende der 1970er Jahren ein vergerssen wirkendes und verfallenes Haus. Ein alter Mann führte uns durch die modrigen Zimmer und zeigte die Einschusslöcher in den Wänden. An einer Wand hing eine Reproduktion des bekanntesten Bildes, vom letzten Schuss eines Franzosen auf die deutschen Angreifer. Mittlerweile wurden das Haus und der Vorplatz renoviert, eine Gedenkstätte im Museum errichtet - mit einigen Exponaten. Nur das Schild oberhalb des Eingangs ist immer noch das alte....
 
Alter Mann vor altem Schild...


 
Adieu Nordfrankreich - einen Besuch wert!




Sonntag, 6. August 2023

Wissembourg im Elsass - Ein Sommertraum


 

Der Besuch im beschaulichen Städtchen Wissembourg - im nördlichsten Zipfel des Elsass - ist nicht nur im Winter ein Vergnügen. https://www.blogger.com/blog/post/edit/5128737411704878278/4516887518460479232


Hotel de Ville
An einem warmen Sommertag lädt die Stadt zu einem  beschaulichen Wochenende ein. Die Altstadt von Wissembourg liegt in einem Tal, umgeben von einer Stadtmauer und einem Wassergraben. Von hier aus kann man Wanderungen in den nahegelegenen Pfälzer Wald unternehmen. Viele alte Häuser dokumentieren die wechselhafte Geschichte der Stadt. Sie liegt nur wenige Kilometer entfernt von der deutschen Grenze. Jeden Samstag bietet der Markt Einheimischen wie Touristen Spezialitäten der Region. Am kleinen Flüsschen 'La Lauter', der durch den Ort fließt, kann man auf einer Bank verweilen - eine natürliche Klimaanlage an heissen Tagen. 


Die Region im Dreieck zwischen Rhein, Pfälzer Wald und Lothringen, ist der nördlichste Teil des Elsass. Die Landschaft mit kleinen Städten und Dörfern wirkt oft wie aus der Zeit gefallen. Die Einwohner von Wissembourg tun viel, um die Geschichte ihrer Stadt zu vermitteln - so fanden wir an einer Straßenmauer neben der Sous-Préfècture große Fotos von Einwohnern. Nutzt man den angebrachten QR-Code, bekommt man ihre Geschichte und damit auch die der Stadt erzählt. Ein Projekt, das SchülerInnen der Stadt umgesetzt haben haben.


Geschichte hat diese Region mehr als genug - sie ist oft von Heerzügen heimgesucht worden. Nach dem 30Jährigen Krieg musste Habsburg das Elsass 1648 an das französische Königreich abtreten. Danach war es über 300 Jahre Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland. Im August 1870 wurde Wissembourg Schauplatz der ersten Schlacht des Krieges zwischen beiden Ländern, den Bismarck vom Zaun gebrochen hatte und der Napoleon III. den Thron kostete. Nach der Niederlage Frankreichs wurden das Elsass und Teile Lothringens vom deutschen Kaiserreich annektiert. In Berlin misstraute man aber den ElsässerInnen, nannte man verächtlich 'Wackes' und stationierte Soldaten, vor allem um die Einwohner zu überwachen. Viele fühlten sich weiter Frankreich verbunden, einige verliessen das Elsass - Deutsche aus dem Reich kamen und übernahmen die Verwaltung. Im ersten Weltkrieg mussten viele Elsässer in der Armee des Kaisers gegen Frankreich kämpfen (*) Nach 1918 kam die Region wieder zu Frankreich, die Deutschen mussten gehen. Heute noch kann man in Wissembourg am unterschiedlichen Baustil die verschiedenen Epochen erkennen. Nach dem Sieg Hitler-Deutschlands 1940 über Frankreich, wurde das Elsass wieder 'eingedeutsch', viele Männer mussten für Hitler in den Krieg ziehen, andere kämpften in der Resistance und bei den Alliierten. Erst 1944 wurde die Region von amerikanischen und französischen Truppen befreit - aber im Januar 1945 startete die Wehrmacht hier eine letzte Offensive im Westen. Viele Orte wurden dabei zerstört, Menschen flohen aus Angst vor deutscher Vergeltung. 

Links Frankreich -Zollstation - Rechts Deutschland

 

Nach Kriegsende kam das Elsass endgültig zu Frankreich. Von der wechselhaften Geschichte dieser Grenzregion  zeugen heute noch alte Grenzposten. Wir fuhren von Kandel auf der Landstrasse Richtung Wissembourg. Das Dorf Schweighofen liegt auf einer Anhöhe über der Stadt. Am Ortsende knickt die deutsche Landstrasse rechts ab, geradeaus führt eine französische Strasse in das Tal. Genau hier ist die Grenze, heute kaum

wahrzunehmen, fährt man an einem leicht verwitterten Zollhäuschen vorbei nach Wissembourg hinunter. Viele bemerken erst, wenn sie das erste französische Straßenschild sehen, dass sie Deutschland verlassen haben. Schwer vorstellbar, dass es hier einst eine bewachte Grenze gab - und das ist nicht einmal 30 Jahre her....

Mich erinnert das an meine Kindheit in den 1960er Jahren, damals fuhren wir einmal im Jahr von Hamburg mit unserem 'Käfer' nach Nordfrankreich. Meine Großmutter lebte in einem kleinen französischen Dorf, das nahe der Belgischen Grenze liegt und in dem meine Mutter geboren wurde. Wir kamen oft erst spät in der Nacht an, einmal standen wir auf dem Weg in einem Grenzdorf vor einer heruntergelassenen Schranke samt Vorhängeschloss. Der Zöllner hatte Feierabend und so mussten wir einen Umweg über Lüttich fahren - heute kaum Vorstellbar, aber so war das damals - auch im Elsass. 

Heute fahren viele Deutsche nach Frankreich, um sich in den großen Supermärkten mit französischen Spezialitäten zu versorgen. Der Euro gilt hüben wie drüben, aber der Käse und andere Leckereien sind deutlich günstiger, als in Deutschland. Dafür fahren die Franzosen zum einstigen Grenzübergang beim Deutschen Weintor und kaufen dort Zigarettentabak. Ein Lotto-Shop bietet davon Unmengen an und die Bedienung spricht französisch. Kleiner Grenzverkehr - das ist heute Alltag - aber keine Selbstverständlichkeit, wenn man die Geschichte beider Länder betrachtet.

Viele beschauliche Dörfer mit ihren Fachwerkhäusern sind bei Touristen aus Deutschland wegen der Restaurants und ihrer elsässischen Küche beliebt: Choucroute, Tarte Flambée, Gugelhopf, Munster-Käse und Wein locken. Orte wie Hunspach und Seebach sind Schmuckstücke der Fachwerkkunst. Hunspach wurde 2020
von einem französischen Radiosender zum schönsten Dorf Frankreichs gewählt. Unweit davon findet man aber auch große Bunkeranlagen der Maginot-Linie, mit der sich Frankreich vor seinen deutschen 'Feinden' schützen wollte - genutzt haben sie beim Überfall 1940 nicht. Heute kann man die unterirdischen Katakomben besichtigen.
 

In Wissembourg pflegt man die Stadtgeschichte nicht nur aus touristische Motiven. Im Winter und im Sommer tritt hier ein Laien-Theater auf verschiedenen Plätzen in alten Trachten und Kleidung des 19.Jahrhunderts auf. Sie erzählen Geschichten der Stadt. Wenn es dunkel ist, werden sie dabei von bunten Lampen aus Scheinwerfern beleuchtet.   

 

Auch in Wissembourg haben Gastronomen

dieselben Probleme, wie in Deutschland - Personalmangel und Fachkräfte fehlen. Daher haben manche Restaurants nur an Wochenenden geöffnet und die Speisekarten belegen, das in einigen Küchen Convenience Produkte aufgewärmt werden. Begeistert waren wir deshalb vom kleinen Lokal "Petit Dominicain" in der Hauptstrasse unweit des Hotel de Ville. Eine Reservierung ist allerdings nötig - bei uns ging das problemlos online. Das überschaubare Angebot der Karte zeigt: Hier wird noch selber gekocht. Ein Familienbetrieb in der der Ehemann am Herd steht und seine Frau freundlich serviert - ein schöner Abend für uns im Innenhof des kleinen Lokals. 

 


Mein Lieblings-Auto.....gesehen im Restaurant Seebach


 


 

 

 

 

(*) Tagebuch Dominik Richert: "Beste Gelegenheit zu Sterben" 

 

Sonntag, 26. März 2023

Meine deutsch-französische Familiengeschichte Teil XII

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Ende und Anfang


HSV-Stadion Rotherbaum - links Bunker
 
 
Ich wurde Ostern 1960 in der Volksschule am Turmweg in Hamburg Rotherbaum eingeschult. Direkt daneben lag damals das Stadion des HSV, an dessen Zaun wir immer in der 'großen Pause' das Training von Uwe Seeler und Charly Dörfel verfolgten. Daneben befand sich ein düsterer Hochbunker aus der Kriegszeit. Er spielte in den letzten Kriegstagen eine wichtige Rolle für das ganz persönliche Kriegsende meines Vaters.
 
Heinz kommandiert April 1945
Heinz war mit seinem Propaganda-Trupp im niederländischen Apeldoorn stationiert. Sie waren von dort vor den britischen Truppen mit viel Glück nach Hamburg entkommen. Heinz erreichte im April 1945 mit seinen vier Untergebenen die Hansestadt und sie kamen in der Wohnung seiner Mutter in der Magdalenentrasse unter. Im heute noblen Pöseldorf nahe der Alster findet man, versteckt im Hof der Hochschule für Musik, ein mächtiger Tiefbunker. Hier befand sich bis Kriegsende der sogenannte 'Kampfstand' von NS Gau- und Reichststatthalter Karl Kaufmann.
 
Bis zum Mai 1945 war das gesamte Viertel militärisches Sperrgebiet der Wehrmacht. Hier hatten sich bis Kriegsende die NS-Größen vor den Bombenangriffen in Sicherheit gebracht. Das Gebiet zwischen Mittelweg, Harvestehuder Weg, Milchstraße und Alsterchaussee war durch Stacheldraht und Spanische Reiter abgesperrt und wurde von schwerbewaffneten Soldaten bewacht. Während die Arbeiterviertel der Stadt bei den Angriffen ab 1943 in Schutt und Asche gebombt wurden und Tausende starben, blieb Pöseldorf verschont. Auch der wenige hundert Meter entfernte Hochbunker am Mittelweg, Kommandozentrale der Hamburger Flugabwehr-Division und des Wehrmachtskommandanten, war unzerstört geblieben
 
Im April 1945 in Hamburg angelangt, wurde Heinz als Leiter einer Druckerei für Zeitungen und Mitteilungen der  Wehrmachtskommandantur eingesetzt. Er wurde aber bald von seinem Vorgesetzten, SS-Hauptsturmführer Böhnert (HJ-Führer und Mitglied einer SS-Propagandastaffel) seines Amtes enthoben. Dazu schrieb Heinz nach Kriegsende In seiner
Zeitung Niederlande 1.4.1945
Stellungnahme zur Entnazifizierung: Er habe sich damals geweigert, „scharfmacherische Artikel in sein Nachrichtenblatt zu übernehmen". Darüber hinaus habe er am 20.April 1945 Abgelehnt, einen Text zu Hitlers Geburtstag zu schreiben. Danach durfte Heinz nur noch die Zeitungen ausfahren - eine harmlose Strafe. Vielleicht war auch dem SS-Hauptsturmführer, vor und nach dem Krieg Schauspieler, mittlerweile klar geworden, dass es mit dem Dritten Reich vorbei war. Heinz bemerkte dazu im Januar 1948: „Nur die bereits einsetzende Auflösung in Hamburg, hat eine schärfere Bestrafung verhindert.“
 

Heinz 'entlässt' sich aus der Wehrmacht

 
Am Abend des 2. Mai 1945, einen Tag nach der offiziellen Bekanntgabe des Todes Hitlers, fuhr der Wehrmachtskommandant Hamburgs, Generalmajor Alwin Wolz, zu den britischen Vorposten im Dorf Meckelfeld - wenige Kilometer vor dar Stadt. Er wollte die kampflose Übergabe der Stadt vereinbaren. Am folgenden Tag - einem Donnerstag - erreichten die britischen Einheiten gegen 18.30 Uhr den Rathausmarkt. Der britische Colonel Harry William Hugh Armytage wurde erster britischer Stadkommandant Hamburgs.
 
Heinz und seine Kameraden drohte jetzt das Gefangenschaft und sie überlegten in der Magdalenenstrasse, wie sie dem entkommmen konnten. Heinz ging also zum nur wenige hundert Meter entfernte Befehlsstand von Generalmajor Wolz in den Hochbunker an der Rothenbaumchaussee. Hier befand sich alles in Auflösung, die letzten Kampfeinheiten - vor allem die Waffen-SS - hatten sich längst Richtung Norden nach  Schleswig-Holstein abgesetzt. So betracht der Wehrmachtsfeldwebel Ressing unbehelligt die Kommandantur. Die Soldaten dort waren damit beschäftigt, im Hof Unterlagen zu verbrennen und ihre Flucht zu organisieren. Heinz betrat ungehindert die leere Schreibstube,und sammelte dort diverse Dienststempel und Formularen ein. Mit seiner 'Beute' kehrte er dann in die Magdalenenstrasse zurück. Dort versahen er und seine Kameraden die Unterlagen mit der durchgepausten Unterschrift des Stadtkommandanten samt Wehrmachtsstempel und entließen sich aus dem Militärdienst. Für sie war der Krieg vorbei....

Heinz ist wieder Zivilist
Jetzt ging es darum, das Überleben im 'Frieden' zu sichern - und das bedeutet vor allem: Wie bekommt man etwas zu Essen? Dazu brauchten sie Lebensmittelkarten und um sie zu erhalten, musste man in Hamburg gemeldet sein. Mitte Mai 1945 begab sich Heinz zum nahegelegenen Polizeirevier in der Feldbrunnenstrasse, während in der Magdalenenstrasse die vier Kameraden warteten. Zum Abschied sagte er zu ihnen: „Wenn ich nicht wiederkomme, dann ist die Sache faul und sie haben gemerkt, dass die Entlassungsscheine nicht stimmen.“ Die Beamten nahmen aber ohne Zögern seine  Anmeldung auf, später gingen seine Kameraden zur Anmeldung dort hin. Aber trotz Lebensmittelkarte war die Situation schwierig, die Rationen reichten kaum zum Überleben - man musste also `Organisieren'. Ihnen kam die Idee: Wieso sollten sie sich nicht einfach in einer Nachbargemeinde Hamburgs auch noch anmelden? Das hätte doppelte Rationen bedeutet und so fuhren Heinz und seine Männer zu den Landungsbrücken. Dort bestiegen sie eine Barkasse, die sie Elbaufwärts nach Stade brachte. Die Anmeldung verlief problemlos, aber auch mit zwei Lebensmittelkarten war es schwer, satt zu werden. Was tun? Ein Kamerad, der Grafiker Roland Kohlsaat, fälschte für die Gruppe Brotmarken. Bekannt wurde der Zeichner 1953 mit seinem Comic in der Illustrierten 'Stern': 'Jimmy das Gummipferd'.
 
Jetzt saßen die Ex-Soldaten also in der Wohnung von Mutter Frieda Ressing. Die Gegend war von Bombenangriffe verschont geblieben. Heinz hatte nach den verheerenden Angriffen auf Hamburg 1943 in Frankreich Urlaub bekommen und war in die schwer zerstörte Stadt gereist, um nach siner Familie zu sehen. Seine Mutter und Schwester Käthe waren aber nach Erfurt, Friedas Heimatstadt, geflohen. Auch hier waren sie nicht sicher, die alliierten Bomber nahmen auch diese Stadt ins Visier. Im April 1945 erreichten US-Truppen die Stadt, sie zogen aber im Juli wieder ab, denn Thüringen gehörte zur russischen Besatzungszone. Hier wollten Frieda, Käthe und die Kinder nicht bleiben und sie erreichten im September 1945 wieder die Magdalenenstrasse in Hamburg. 
 

Briten organisieren Entlassung

 
In Hamburg war der britischen Kommandantur und der von ihr reorganisierten deutschen Polizei der massenhafte Zuzug ehemaliger Wehrmachtsangehöriger aufgefallen. Ende September 1945 wurden deshalb überall Plakate angeschlagen. Demnach sollten sich alle Ex-Soldaten in der ehemaligen Kunsthalle an der Binnenalster zur offiziellen Entlassung einfinden. Heinz sagte sich: ‚Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste’ und legte vor dem Weggehen sein Uhr ab. Zu Käthe meinte er: „Wenn die Russen Uhren klauen, warum sollen das die Engländer nicht auch tun?“ Vorausschauend nahm er auch sein Soldbuch nicht mit, immerhin war dort vermerkt, dass er Mitglied einer Propagandakompanie gewesen war – und das hätte seine Internierung als möglicher NS-Belasteter bedeuten können. In der Kunsthalle angekommen, musste er sich zur Gruppe der Soldaten stellen, die keine Papiere hatten. Dort habe er gemeinsam mit anderen „präsumtiven Verbrechern“ gewartet, beschrieb er später die Szenerie. In der Masse der Ex-Soldaten entdeckte Heinz einen Bekannten. Dieser war vor dem Krieg Manager des Boxweltmeisters Max Schmeling gewesen und Heinz hatte ihn bei einem Pressetermin kennen gelernt. Als er ihm sagte, dass er keine Papiere habe, machte der Kamerad ein nachdenkliches Gesicht. Dann wies er auf eine Gruppe am Rand hin und sagte: „Schau Dir mal Deine Leidensgenossen an, die haben alle eine Aktentasche mit Zahnbürste und Wäsche mitgebracht. Die nehmen an, gleich verhaftet zu werden.“ Das wirkte nicht unbedingt ermutigend, als sie aufgefordert wurden, in die große Halle des Kunstmuseums zu gehen. Dort saßen um einen Tisch drei britische Offiziere und einer - jung, blond und ziemlich müde - befahl: „Oberkörper freimachen! Arme hoch!“ So wollte man feststellen, ob sich ein SS-Mitglied unter den Männern befand, denn ihnen waren die Blutgruppe am Oberarm eintätowiert worden.
Heinz wurde nach seinem Soldbuch gefragt, er stellte sich dumm – das hatte er bei der Wehrmacht ja gelernt - und antwortete, seine Unterlagen seien vor Kriegsende zusammen mit seiner Einheit nach Schleswig-Holstein gebracht worden. Auf Nachfrage gab er als Truppenteil: Infanterieregiment 67, General von Seekt, Spandau an. Seine Zugehörigkeit zur Propagandaabteilung ließ er tunlichst unerwähnt. Der britische Offizier stempelte ein Papier ab und Heinz musste zu einem Sergeant gehen, der ihm eine Ladung Insektenpulver unter das Hemd und in die Hose beförderte. Damit war jetzt für Heinz endgültig seine Soldatenzeit beendet.

 


Sonntag, 5. März 2023

Erinnerung an Fernande Henriette Aubry

Meine Mutter Fernande Henriette Ressing, geborene Aubry, wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden.


 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Fernande mit 25 Jahren
Der 15. Februar 1923, war - für Nordfrankreich - ein milder Wintertag, kühl und tiefhängende Wolken. Das etwa 100 Kilometer entfernten Meer ist mit seinem rauhen Klima auch im Dorf Saint Benin und der Kleinstadt Le Cateau präsent. Herbst und Winter sind im Departement Nord, wenige Kilometer von Belgiens Südrenze oft stürmisch, mit Nebel, kalt und regnerisch.

An diesem Donnerstag 1923 wurde im Krankenhaus von Le Cateau Fernande Henriette Aubry - meine Mutter - geboren. Sie war die Tochter von Flore und Clotaire Aubry, die beide im Dorf Saint Benin lebten. 

Die Eltern waren einfache Leute, Flore hatte nach 1918 in einer Mühle und in einer Keramik-Fabrik gearbeitet. Clotaire war als Kriegsversehrter in das nordfranzösische Dorf gekommen, hatte in der Mühle gearbeitet und dort seine Frau Flore kennengelernt.

Fernande mit Sieben Jahren am Meer
 

Der Erste Weltkrieg hatte mit seinen Schrecken ihr Leben geprägt, Flore musste ab 1914 unter deutscher Besatzung leben und wurde mit dem Mutter über die Schweiz ins unbesetzte Frankreich abgeschoben. Clotaire war, in der Region Verdun lebend, 1916 zur Artillerie eingezogen worden und bei einem Gasangriff 1918 bei Soissons schwer verwundet worden, sodas er zehn Jahre später an den Folgen verstarb.

Die Region um Le Cateau und Saint Benin war 1914 und erneut im Herbst 1918 Schauplatz schwerer Kämpfe gewesen. Die Region lag größtenteils in Trümmern. Überall zeugen heute noch große Soldatenfriedhöfe davon.

Fernande mit Flore
 

1923 hatten französische Truppen das Ruhrgebiet besetzt. Die Familie Aubry bekam das nur aus der Zeitung mit, das Leben im kleinen Haus im Dorf war anstrengend genug. Nachdem der Vater 1928 im Sanatorium in Lourdes der Kriegsverletzung erlegen war, musste die Mutter Fernande alleine großziehen. Sie bemühte sich um eine gute Schulbildung die, die die Tochter 1940, kurz vor dem deutschen Überfall, mit der Mittleren Reife abschloss. Fernande war ein Film-Fan, jedes Wochenende gab die Mutter ihr Geld und sie lief mit einer Freundin ins nahegelegenen Le Cateau, um das Kino zu besuchen. 

Das rauhe Klima Nordfrankreichs tat Fernandes Gesundheit nicht gut, sie bekam Tuberkulose und wurde in ein Sanatorium in den Ardennen, nahe der belgischen Grenze geschickt. Genau hier stieß die Wehrmacht im Mai 1940 nach Frankreich vor und Fernande floh mit anderem im Bombenhagel nach Lille, in dem ihre Mutter lebte.

Fernande (links)
 

Hier lernte sie meinen Vater Karl Heinrich Ressing durch Zufall kennen, er arbeitet dort für eine Besatzungs-Zeitung der Wehrmacht als Redakteur. Da er gut französisch sprach und den französischen Mitarbeitern deutlich machte, kein Nazi zu sein, war der schlanke, große und attraktive Henri beliebt. Durch Zufall lernte sie ihn kennen und es war kein Wunder, dass sich die gerade einmal 20-Jährige Fernande in den gutaussehenden und kultivierten Mann verliebte. Mutter Flore ließ sie gewähren - gegen Fernande Dickkopf kam sie nicht an. Da Heinz dienstlich wie privat keine Uniform tragen musste, fiel er als 'Besatzungssoldat' kaum auf. Das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass Fernande nach Kriegsende der öffentlichen Demütigung entging, die Frauen erdulden mussten, die sich auf einen deutschen Soldaten eingelassen hatten. Vielleicht auch aus Vorsicht waren sie und Ihre Mutter kurz nach Kriegsende aus Lille in das Dorf zurückgekehrt.

...wieder zusammen in Hamburg...

Heinz gelang es über Kontakte zum Roten Kreuz Briefkontakt mit Fernande aufzunehmen. Sie versuchte illegal Hamburg zu erreichen, was beim zweiten mal auch gelang. Heinz arbeitete damals wieder als Journalist - er galt als Unbelastet - und kannte den britischen Stadtkommandanten Hamburgs. Dieser legalisierte Fernandes Aufenthalt quasi in letzter Sekunde, denn die französischen Behörden hatten bereits ihre Ausweisung beantragt.

Standesamt 1948

Fernande und die Deutschen - das blieb immer ein gespanntes Verhältnis. Trotz ihrer doppelten Staatsbürgerschaft  galt sie für viele Deutsche als Ausländerin - leicht an ihrem Akzent erkennbar. Sie äußerte sich häufig sarkastisch über die 'Unkultur' der Deutschen. Diese erlebten ab 1933 ja nur die 'Herren-Kunst' - während in Frankreich bis 1940 Vielfalt bestanden hatte. Über die Kollaboration und dem Petain-Regime verlor sie uns gegenüber nie ein Wort. Gerne mokierte sie sich über die doppelte Moral: "Eine Deutsche Frau schminkt sich nicht - Ha! Bei uns stieg damals jeder Soldat den geschminkten Fränzösinnen nach!" Sie liebte weiterhin das französische Kino und las französische Illustrierte wie Elle oder Paris Match. Liefen im Fernsehen Filme über die Massenaufmärcshe der NS-Zeit meinte sie sarkastisch: "Ja ja und jetzt will keiner dabeigewesen sein". 

Insgesamt war sie aber, wie viele Frauen ihrer Generation, ein unpolitischer Mensch. Sie hatte auch die Deutsche Staatsbürgeschaft und bei Wahlen stimmte sie für den Kandidaten, den Heinz wählte. Von ihrer kulturellen Offenheit und Bildung haben wir als Kinder aber profitiert. Sie bestand auch immer darauf, dass Heinz mit einem gewissen Chic gekleidet war. Gelitten hat sie darunter, dass sich ihr Wunsch nach einem repräsentativen Haus nie erfüllte. Heinz war auch alles andere als treu, die Ehe eigentlich für beide eine mesalliance.

Nachkrieg: Fernande und Heinz in seiner Redaktion
Im Mai 1949 wurde meine Schwester Florence in Hamburg geboren, im Oktober 1954 ich. Die Verbindung der Eltern endete 1967, Heinz verließ die Familie und Fernande musste sich und ihre Kinder alleine durchbringen. Es war eine schwere und für sie demütigende Zeit, sie musste als Putzfrau arbeiten und bekam erst später einen Job im Versand des Kinounternehmens Rank-Film in Hamburg. 

Sie schaffte es nie, wirklich von Heinz loszukommen - obwohl er mit einer anderen Frau zusammenlebte. Sie musste ihn  auf Unterhalt verklagen, ließ sich aber nie scheiden. Angesichts der Rechtslage Mitte der 1969 hätte das auch eine gerichtliche  'Schlammschlacht' nach sich gezogen. 

Heinz war für Fernande - trotz allem - ihre große Liebe. Im Jahr 1976 wurde bei Ihr fortgeschrittener Krebs der Bauchspeicheldrüse festgestellt, an dem sie am 9. Dezember in Hamburg verstarb.


Letzte Aufnahme 1975



Zu Karl Heinrich Ressing: https://1913familienalbum.blogspot.com/2014/04/erinnerung-karl-heinz-ressing.html