Sonntag, 5. März 2023

Erinnerung an Fernande Henriette Aubry

Meine Mutter Fernande Henriette Ressing, geborene Aubry, wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden.


 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Fernande mit 25 Jahren
Der 15. Februar 1923, war - für Nordfrankreich - ein milder Wintertag, kühl und tiefhängende Wolken. Das etwa 100 Kilometer entfernten Meer ist mit seinem rauhen Klima auch im Dorf Saint Benin und der Kleinstadt Le Cateau präsent. Herbst und Winter sind im Departement Nord, wenige Kilometer von Belgiens Südrenze oft stürmisch, mit Nebel, kalt und regnerisch.

An diesem Donnerstag 1923 wurde im Krankenhaus von Le Cateau Fernande Henriette Aubry - meine Mutter - geboren. Sie war die Tochter von Flore und Clotaire Aubry, die beide im Dorf Saint Benin lebten. 

Die Eltern waren einfache Leute, Flore hatte nach 1918 in einer Mühle und in einer Keramik-Fabrik gearbeitet. Clotaire war als Kriegsversehrter in das nordfranzösische Dorf gekommen, hatte in der Mühle gearbeitet und dort seine Frau Flore kennengelernt.

Fernande mit Sieben Jahren am Meer
 

Der Erste Weltkrieg hatte mit seinen Schrecken ihr Leben geprägt, Flore musste ab 1914 unter deutscher Besatzung leben und wurde mit dem Mutter über die Schweiz ins unbesetzte Frankreich abgeschoben. Clotaire war, in der Region Verdun lebend, 1916 zur Artillerie eingezogen worden und bei einem Gasangriff 1918 bei Soissons schwer verwundet worden, sodas er zehn Jahre später an den Folgen verstarb.

Die Region um Le Cateau und Saint Benin war 1914 und erneut im Herbst 1918 Schauplatz schwerer Kämpfe gewesen. Die Region lag größtenteils in Trümmern. Überall zeugen heute noch große Soldatenfriedhöfe davon.

Fernande mit Flore
 

1923 hatten französische Truppen das Ruhrgebiet besetzt. Die Familie Aubry bekam das nur aus der Zeitung mit, das Leben im kleinen Haus im Dorf war anstrengend genug. Nachdem der Vater 1928 im Sanatorium in Lourdes der Kriegsverletzung erlegen war, musste die Mutter Fernande alleine großziehen. Sie bemühte sich um eine gute Schulbildung die, die die Tochter 1940, kurz vor dem deutschen Überfall, mit der Mittleren Reife abschloss. Fernande war ein Film-Fan, jedes Wochenende gab die Mutter ihr Geld und sie lief mit einer Freundin ins nahegelegenen Le Cateau, um das Kino zu besuchen. 

Das rauhe Klima Nordfrankreichs tat Fernandes Gesundheit nicht gut, sie bekam Tuberkulose und wurde in ein Sanatorium in den Ardennen, nahe der belgischen Grenze geschickt. Genau hier stieß die Wehrmacht im Mai 1940 nach Frankreich vor und Fernande floh mit anderem im Bombenhagel nach Lille, in dem ihre Mutter lebte.

Fernande (links)
 

Hier lernte sie meinen Vater Karl Heinrich Ressing durch Zufall kennen, er arbeitet dort für eine Besatzungs-Zeitung der Wehrmacht als Redakteur. Da er gut französisch sprach und den französischen Mitarbeitern deutlich machte, kein Nazi zu sein, war der schlanke, große und attraktive Henri beliebt. Durch Zufall lernte sie ihn kennen und es war kein Wunder, dass sich die gerade einmal 20-Jährige Fernande in den gutaussehenden und kultivierten Mann verliebte. Mutter Flore ließ sie gewähren - gegen Fernande Dickkopf kam sie nicht an. Da Heinz dienstlich wie privat keine Uniform tragen musste, fiel er als 'Besatzungssoldat' kaum auf. Das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass Fernande nach Kriegsende der öffentlichen Demütigung entging, die Frauen erdulden mussten, die sich auf einen deutschen Soldaten eingelassen hatten. Vielleicht auch aus Vorsicht waren sie und Ihre Mutter kurz nach Kriegsende aus Lille in das Dorf zurückgekehrt.

...wieder zusammen in Hamburg...

Heinz gelang es über Kontakte zum Roten Kreuz Briefkontakt mit Fernande aufzunehmen. Sie versuchte illegal Hamburg zu erreichen, was beim zweiten mal auch gelang. Heinz arbeitete damals wieder als Journalist - er galt als Unbelastet - und kannte den britischen Stadtkommandanten Hamburgs. Dieser legalisierte Fernandes Aufenthalt quasi in letzter Sekunde, denn die französischen Behörden hatten bereits ihre Ausweisung beantragt.

Standesamt 1948

Fernande und die Deutschen - das blieb immer ein gespanntes Verhältnis. Trotz ihrer doppelten Staatsbürgerschaft  galt sie für viele Deutsche als Ausländerin - leicht an ihrem Akzent erkennbar. Sie äußerte sich häufig sarkastisch über die 'Unkultur' der Deutschen. Diese erlebten ab 1933 ja nur die 'Herren-Kunst' - während in Frankreich bis 1940 Vielfalt bestanden hatte. Über die Kollaboration und dem Petain-Regime verlor sie uns gegenüber nie ein Wort. Gerne mokierte sie sich über die doppelte Moral: "Eine Deutsche Frau schminkt sich nicht - Ha! Bei uns stieg damals jeder Soldat den geschminkten Fränzösinnen nach!" Sie liebte weiterhin das französische Kino und las französische Illustrierte wie Elle oder Paris Match. Liefen im Fernsehen Filme über die Massenaufmärcshe der NS-Zeit meinte sie sarkastisch: "Ja ja und jetzt will keiner dabeigewesen sein". 

Insgesamt war sie aber, wie viele Frauen ihrer Generation, ein unpolitischer Mensch. Sie hatte auch die Deutsche Staatsbürgeschaft und bei Wahlen stimmte sie für den Kandidaten, den Heinz wählte. Von ihrer kulturellen Offenheit und Bildung haben wir als Kinder aber profitiert. Sie bestand auch immer darauf, dass Heinz mit einem gewissen Chic gekleidet war. Gelitten hat sie darunter, dass sich ihr Wunsch nach einem repräsentativen Haus nie erfüllte. Heinz war auch alles andere als treu, die Ehe eigentlich für beide eine mesalliance.

Nachkrieg: Fernande und Heinz in seiner Redaktion
Im Mai 1949 wurde meine Schwester Florence in Hamburg geboren, im Oktober 1954 ich. Die Verbindung der Eltern endete 1967, Heinz verließ die Familie und Fernande musste sich und ihre Kinder alleine durchbringen. Es war eine schwere und für sie demütigende Zeit, sie musste als Putzfrau arbeiten und bekam erst später einen Job im Versand des Kinounternehmens Rank-Film in Hamburg. 

Sie schaffte es nie, wirklich von Heinz loszukommen - obwohl er mit einer anderen Frau zusammenlebte. Sie musste ihn  auf Unterhalt verklagen, ließ sich aber nie scheiden. Angesichts der Rechtslage Mitte der 1969 hätte das auch eine gerichtliche  'Schlammschlacht' nach sich gezogen. 

Heinz war für Fernande - trotz allem - ihre große Liebe. Im Jahr 1976 wurde bei Ihr fortgeschrittener Krebs der Bauchspeicheldrüse festgestellt, an dem sie am 9. Dezember in Hamburg verstarb.


Letzte Aufnahme 1975



Zu Karl Heinrich Ressing: https://1913familienalbum.blogspot.com/2014/04/erinnerung-karl-heinz-ressing.html

 

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