Donnerstag, 12. Mai 2022

Meine deutsch-französische Familiengeschichte Teil X

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Das Massaker von Kowno


Es geschah Anfang der 1980er Jahre - Heinz besuchte mich und meine Freundin in Norderstedt. Wir saßen am Abend im Wohnzimmer zusammen, da sagte er, er müsse uns etwas erzählen. Kürzlich habe ihn ein Beamter der Frankfurter Kriminalpolizei an seinem Wohnort in Großsachsen zu seiner Kriegszeit vernommen. Heinz hatte oft 'launige Geschichten' darüber erzählt und war stolz, nur ein einziges mal geschossen zu haben - und das auch noch versehentlich auf die eigenen Leute - ohne zu treffen. An diesem Abend erzählte er uns erstmals von seinen Erlebnissen beim Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941. 

 
Heinz Ilmensee Sommer 1941
 
Seine Division gehörte zur 16. Armee, die als Teil der Heeresgruppe am 22.Juni 1941 über das Baltikum bis nach Leningrad vorstoßen sollte. Heinz kam mit der Propaganda-kompanie PK 501 drei Tage nach ihrer Eroberung in die Litauische Hauptstadt Kowno – von den Deutschen Kauen genannt - dem heutigen Kaunas.
 
 
 
 
 
 
Im Jahr 1986 nahm Heinz an einer Podiumsdiskussion in Frankfurt, mit Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges teil. Er saß dort gemeinsam mit einem damaligen Widerstandskämpfer und einem ehemaligen Führer der Hitler-Jugend. Sie wurden danach gefragt, wass man damals von der Judenvernichtung gewusst habe. Heinz antwortete, man habe nur gehört, dass die Juden in den Osten „ausgesiedelt“ würden. Die KZs wären von der NS-Propaganda als Umerziehungslager bezeichnet worden. Er fügte hinzu, viele Deutsche hätten damals wohl auch nicht mehr darüber wissen wollen. Eine Kollektivschuld lehnte er ab, betonte aber: „das ich mich für bestimmte Dinge schämen muß.“ Was er damit meinte, sagte er an diesem Abend in Frankfurt nicht.

 

Wofür er sich schämte? Heinz verfasste 1942 für den NS-
1941 Frontzeitung Ilmensee

Verlag F.Willmy eine Broschüre unter dem Titel: „Jungarmisten der Weltrevolution – Der Verrat des Bolschewismus an der Jugend“. In dieser NS-Propagandaschrift steht auch eine Passage zur Einnahme Kownos: 

Auf der Freiheitsstraße in Kauen...

Es war am Morgen des 25. Juni 1941. Auf der von litauischen Selbstschutzmännern bereits wieder umbenannten Freiheitsstraße schob und drängte sich eine große Volksmenge Ein klarer, wolkenloser Sommerhimmel lachte über der Stadt Kauen, die nun seit wenigen Stunden dem Terror entronnen war, die wieder aufatmete nach einjähriger Unterdrückung.

Abends zuvor hatten deutsche Voraustruppen die Memel überquert, hatte der Sender einen Aufruf gebracht und verkündet, dass Litauens Hauptstadt wieder frei sei. Die Trümmer der gesprengten großen Brücken hatten den Vormarsch nur kaum verzögern können. In wenigen Nachtstunden war von Pionieren in unvergleichlicher Präzisionsarbeit eine Potonbrücke geschlagen worden.

Über sie marschierte nun die Infanterie in die Stadt ein. Verdreckt,  verschwitzt, übermüdet von der schweren Marschleistung, aber straff und diszipliniert bogen die ersten Kolonnen in die Freiheitsstraße ein. Ein Spalier grüßender Hände empfing sie. Junge Mädchen in hellen Kleidern steckten den Soldaten der jungen deutschen Wehrmacht Blumen an. Frauen brachten Wasser, Tee und andere Getränke, Männer verteilten Zigaretten. Immer wieder wollte man die Hände der Befreier drücken. Ein jubelnder Freiheitsrausch empfing die Soldaten. (...) Alle öffentlichen Gebäude, Druckereien standen unter Schutz(..).

War es auch ein Zufall, so erschien es doch als Symbol: während die deutschen Soldaten auf der einen Seite der breiten Allee marschierten, rückte auf der entgegengesetzten Seite eine staubgelbe Kolonne müde und zerschlagen heran. (...) Da sah man Kirgisen, Kalmücken, die Soldaten des ganzen UdSSR-Völkersammelsuriums. Da zogen die geschlagenen Soldaten der Weltrevolution(...). Und ihnen gegenüber marschierten die jungen deutschen Soldaten, durchdrungen von ihrer Mission, ein für alle Mal die Bedrohung an der Ostgrenze ihres Reiches zu beseitigen. (...) auf Befehl ihres Herzens und im Verantwortungsbewusstsein ihres europäischen Gemeinschaftsgefühles. 

Hier endet die Schilderung – Heinz hat nach dem Krieg betont, es seien ohne sein Wissen zwei Kapitel hinzugefügt und der Text 'verschärft' worden. Ob er damit auch diesen Abschnitt meinte weiß ich nicht.

Der Augenzeuge.... 


Kowno Quelle Bundesarchiv - Wehrmachtssoldaten schauen zu.. (*)
 
Was er aber in Kowno erlebte, darüber schwieg er bis in die 1980er Jahre: Er wurde damals Zeuge, wie in aller Öffentlichkeit Juden; Männer wie Frauen; von litauischen Nationalisten erschlagen wurden. Die Stadt hatte damals etwa 30 000 jüdische Einwohner, unter den Zuschauern der Mordaktion befanden sich viele Wehrmachtssoldaten. Keiner von ihnen griff ein, manche machten sogar Fotos vom Geschehen. (*) Heinz erzählte uns, er sei umgehend mit seinem Kübelwagen zum Hauptquartier der Division gefahren und habe den Vorfall bei dem für den Nachrichtendienst zuständigen Stabsoffizier (IC) gemeldet. Nach einigen Minuten sei dieser zurückgekommen und habe ihm befohlen, umgehend zu seiner Einheit zurückzukehren und Stillschweigen zu bewahren: „Das ist Sache der Einsatzgruppen“ habe er nur gesagt.

Hinter den vorrückenden Kampftruppen folgten Einheiten der SS, die sogenannten Einsatzgruppen. Ihre Aufgabe bestand darin, umgehend nach der Eroberung Juden und Anhänger des Sowjetregimes zu ermorden. Für die Heeresgruppe der 16. Armee war die Einsatzgruppe A zuständig, zu der das SD-Einsatzkommando 3 (Sicherheitsdienst der SS) unter SS-Standartenführer Karl Jäger gehörte. Er wurde später SD-Kommandeur für Gesamt-Litauen und schrieb in seinem Bericht: „Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, vom EK 3 erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr(...).

 

Dabei überließ man Anfangs das Morden Freiwilligen der „Litauischen Aktivistenfront“. Diese Exilanten waren mit der Wehrmacht aus Deutschland nach Litauen zurückgekehrt. (**) Es waren glühende Antisemiten, die auf Rache und Mord auswaren. Sie wollten eine deutschfreundliche Regierung einsetzten, ihre Einheit dienten sich als Hilfspolizisten an und stellten größtenteils die Täter, die Heinz im Zentrum Kownos gesehen hatte. Insgesamt wurden zwischen Juni und Juli 1941 in der Stadt etwa 10 000 jüdische Einwohner ermordet - viele in einer ehemaligen Festung der Stadt. Ende der 1980er Jahre ermittelte die Kriminalpolizei gegen den einstigen SS Rottenführer Helmut Rauca, der das Sonderkommando in Kowno befehligt hatte. In diesem Zusammenhang wurde Heinz von der Kriminalpolizei aus Frankfurt vernommen. Zu einem Prozess gegen Rauca kam es nie, denn er verstarb Mitte  der 80er Jahre. 

 

Heinz besuchte am Abend des 24. Juni 1941 in Kowno eine Kneipe, hier saßen deutsche Soldaten und einheimische Hilfstruppen und feierten den 'Sieg'. Einer von ihnen setzte sich zu Heinz an den Tisch, sie kamen ins Gespräch und der Mann erzählte, er habe sich am Tag zuvor  eine Jüdin aus einem Gefangenenlager geholt. Sie habe sich gewehrt und ihn in den Arm gebissen, bevor er sie erschoss. Heinz blickte auf den Arm und erkannte die rote Linie einer Blutvergiftung. Er überlegte, ob er den Mörder warnen sollte, oder nicht - habe es ihm dann doch gesagt, erzählte Heinz uns Anfang der 1980er Jahre bei seinem Besuch in Norderstedt. Meine Anfrage bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt über Unterlagen des Verhöres Jahre später verliefen erfolglos.

 

Heinz kam am 10. Mai 1942 laut Soldbuch zu einer Ersatzabteilung nach Potsdam und wurde dort Unteroffizier. Er kehrte nach Lille in Frankreich zurück und unterstand dem Militärbefehlshaber für Belgien und die nordfranzösische Provinz, Pas de Calais.  
 

Schweigen nach 1945

 

Ende der 1980er Jahre begann die Debatte über die Vernichtung der Juden und Kriegsverbrechern. Sie wurde Angestoßen durch die Ausstrahlung der US-TV-Serie "Holocaust" in der ARD. Im Jahr 1995 demontierte die bundesweit gezeigte Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht" die verlogene Legende, sie habe einen 'sauberen Krieg' geführt und sei am Holocaust nicht beteiligt gewesen. Einstige Wehrmachtssoldaten, wie der NDR-Journalist und Sozialdemokrat Rüdiger Proske polemisierten gegen die Ausstellung. Immer mehr Zeugnisse kamen aber an die Öffentlichkeit - gerade von Zeitzeugen. Ihr jahrzehntelanges Schweigen nach 1945 hatte das Selbstverständnis der Menschen in der Bundesrepublik - auch in der DDR - als 'Verführte' geprägt, die von nichts gewusst hätten. Zu denen die nach dem Krieg weiter geschwiegen hatten, gehörte auch Heinz.
 
Hamburg 1946: Heinz rechts, Giordano Mitte
Beim Stöbern in der alten Fotokiste meines Vaters fand ich Jahre später eine Aufnahme von 1946 aus Hamburg. Da saßen in der 'guten Stube' meiner Großmutter in der Magdalenenstrasse ein Gruppe junger Männer, darunter auch der dem Holocaust entkommene Ralph Giordano. Heinz leitete damals als Zeitungsredakteur einen Gesprächskreis junger Menschen, dazu gehörten der spätere Regierungssprecher Conrad Ahlers und Christian Kracht, der beim Axel-Springer-Verlag Karriere machen sollte. Mit dabei die Journalistin Heilwig von der Mehden - später bekannt als Autorin der 'Brigitte'. Ich schickte Giordano 1998 eine Kopie des Fotos, daraus entspann sich ein Briefwechsel bis 2013. Er schrieb mir, er habe Heinz noch in guter Erinnerung, dieser sei damals "so etwas wie der Fixstern (...), um den die jüngeren (...) kreisten". Im September 2013 fragte ich Giordano, ob Heinz in diesem Kreis etwas von seinen Erlebnissen in Kowno erzählt habe. Die Antwort Giordanos: Weder Heinz, noch die anderen hätten damals von ihren Kriegserlebnissen gesprochen. "Die Lüge vom 'Sauberen Waffenrock' der Wehrmacht jedenfalls war noch allmächtig (...) das Übliche - Verdrängung. Eben das, was ich die 'zweite Schuld' genannt habe, den 'Großen Frieden mit den Tätern', Geburtsfehler der Bundesrepublik." Vor allem sein NS-Propagandatext über Kowno habe ihn erschüttert "zumal später dann durch ihn selbst ans Tageslicht kam, daß er Augenzeuge von Massentötungen in Kaunas wurde." Giordanos Urteil über meinen Vater  - eine bittere Wahrheit: "Heinz Ressing war nach allem, was ich durch Sie jetzt zu wissen bekam, ein funktionierendes Rädchen im Dienste Hitlers."  
 

 

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