Vorbemerkung:
Alles
was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen
erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor
allem,
wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle
Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten
ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu
illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein
Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des
Zweiten Weltkrieges.
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verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial.
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Verwüstetes Land - Versehrte Menschen
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1923 |
Im September 1920 kam Clotaire Aubry nach Saint Benin. der Artillerie-Offizier, dem er als Bursche gedient hatte, bot ihm eine Arbeit in seiner Mühle an der Selle an. Der 24Jährige Clotaire hatte zwar den Krieg überstanden, aber der junge Mann litt an einer zerstörte Lunge. Sie war bei einem deutschen Gasangriff kurz vor Kriegsende verätzt worden. Den Job in der Mühle musste er deshalb bald aufgeben, er wurde Postbote, konnte diese Tätigkeit aber auch nicht lange ausüben. Er kam 1920 als ein von Krankheit Gezeichneter in die von Krieg und Zerstörung betroffene Region.
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Saint Benin 2015
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Le Cateau war 1914 und 1918 Schauplatz schwerer Kämpfe gewesen. Dazu hatte die deutschen Besatzer vier Jahre lang die Region ausgebeutet. Einwohner wurden zur Zwangsarbeit verschleppt, einige in Lager nach Deutschland, Alte, Frauen und Kinder schoben die Besatzer als 'unnütze Esser' über |
Ehrenmal Friedhof Saint Benin
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die Schweiz in das unbesetzte Frankreich ab. Nach Kriegsende begann der mühsame Wiederaufbau, den die Deutschen mit den im Versailler Vertrag beschlossenen Reparationen bezahlen sollten. Überall in Nordfrankreich findet man heute noch viele Soldatenfriedhöfe. In Saint Benin hatten die Deutschen beim Rückzug das Viadukt der Eisenbahn, die Mühlen an der Selle sowie viele Häuser - wie auch die Dorfkirche - zerstört. Frankreich fehlten für den Wiederaufbau Arbeitskräfte, über 1,3 Millionen Männer waren gefallen. Daher fand die 20jährige Flore
Gaspard schnell eine Beschäftigung und lernte bald ihren späteren Mann kennen. Sie meinte einmal, beide seien vom Patron der Mühle, dem einstigen Vorgesetzten Clotaires, faktisch verkuppelt worden.
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1916-1918 |
Clotaire Pierre Ernest Aubry wurde am
26. Mai 1896 im kleinen Dorf
Avocourt, westlich von Verdun, geboren. Die Familie war drei Jahre vor Kriegsbeginn in das Dörfchen Houdainville, südöstlich von Verdun gezogen. Eine Region, die während des Krieges Frontgebiet war, Clotaire wurde 1916 für das Militär gemustert. Seine Erkennungsmarke für das Handgelenk hatte die Matrikelnummer (658), er wurde als Soldat 2.ieme Classe eingestuft. Mit 1,76 Metern war er für damalige Verhältnisse groß, hatte dichtes, braunes Haar und ein ovales
Gesicht. Er wurde 1916 zum 61.Regiment der Feldartillerie eingezogen. Am 16. September wurde seine Batterie bei Soissons Ziel eines deutschen
Gasangriffs. Seine Lunge wurde dadurch auf Dauer geschädigt und war Ursache seines Todes. Zehn Jahre nach Kriegsende erlag Clotaire am 1.September 1928 in einem Hospital im Wallfahrtsort Lourdes den Folgen seiner Gasvergiftung.
Fernande und Flore
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Flore 1920
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Flore und Clotaire heirateten bald, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Am 15.Februar 1923 kam ihre Tochter Fernande Henriette - meine spätere Mutter - zur Welt. Flore konnte danach keine Kinder mehr bekommen, vielleicht ein Grund, warum sie nach dem Tod ihres Mannes bis zu ihrem Ende 1988 immer alleine gelebt hat. Keine Kinder mehr bekommen zu können,
war in damaligen Zeiten ein 'Makel' für Frauen. Die kleine Fernande lernte ihren Vater nur kurz kennen, da sie gerade einmal fünf Jahre alt war, als er starb. Danach lebten Flore und die Tochter gemeinsam mit Flores
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Fernande 1930
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Vater Henri Gaspard im Haus in der Rue Faidherbe. Nach dem Tod seiner Frau
Marie im Jahr 1927 verfiel der Großvater mehr und mehr dem Alkohol. Dabei
wurde Henri oft agressiv und gewalttätig, Flore und Fernande fürchteten sich vor ihm,
wenn er im Vollrausch randalierte - immerhin hatte er immer noch das alte Gewehr aus seiner Militärzeit. Am 15. Juli 1932 starb Herni Gaspard und wurde auf dem
Dorffriedhof neben seiner Frau Marie beerdigt.
Für
Flore und Fernande dürfte der Tod Henri Gaspards eine |
Paul Gaspard 1930
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Befreiung von einem Tyrannen bedeutet haben. Flore musste aber jetzt ihre Tochter
und sich alleine durchbringen. Eine Witwenrente für den an den Folgen der Kriegsverletzung gestorbenen Ehemann erhielt
sie erst 1968 - monatlich 200 Francs. Sie arbeitete weiter in der
Mühle an der Selle und später in der Fabrik für Fliesen und Kacheln von
Le Cateau, bis sie 1955 arbeitsunfähig wurde - das Herz machte nicht mehr mit. Ihre ganze Energie widmete sie ihrer Tochter, der sie versuchte, die Wünsche zu erfüllen. Mit dem schmalen Einkommen einer Arbeiterin war das schwer und nach dem Tod von Fernande 1976 meinte Flore einmal bitter, sie habe ihre Tochter zu einer Diva erzogen, die sich für das ärmliche Leben ihrer Mutter geschämt habe. Fernande kam zuerst in die Dorfschule von Saint Benin und profitierte von der Bildungsreform der 1930er Jahre, in der das Schulgeld für höhere Bildung abgeschafft wurde. So erhielt Fernande einen Abschluss, der in etwa der deutschen Mittleren Reife entsprach. Schon als junges Mädchen liebte sie Filme und so lief |
Fernande und Flore um 1930
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sie fast jedes Wochenede die gut fünf Kilometer zum Kino in Le Cateau. Dieses Faible für Kino und
Filmstars behielt sie ihr ganzes Leben lang. Nach dem Tod des Großvaters 1932 zogen Fernande und Flore in die nordfranzösische Industriestadt Lille. Erst 1946 sollten sie nach Saint Benin zurückkehren. In der Stadt konnte Fernande eine bessere Ausbildung erhalten. Ende der 1930er Jahre erkrankte sie an Tuberkulose und musste zur Kur in ein Sanatorium in den Ardennen - dort wurde sie am 10. Mai 1940 vom Angriff der deutschen Wehrmacht überrascht.
Dorfgeschichten - vom Leben und Sterben
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Dorfschule 2015
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Saint Benin war damals mit seinen etwa 500 Einwohnern ein typisches Dorf der Region. Die kleinen Dramen und Geschichten wurden vor allem von den Frauen des Dorfes weitergetragen. Da Flore als sehr gute Köchin bekannt war, wurde sie oft für Familienfeiern engagiert. Dabei wurde gerne getratscht und gelästert, skurrile Geschichten erzählt, die Flore noch Jahrzehnte später gerne zum Besten gab. Ihre Anekdoten aus Saint Benin erinnerten mich an Romane wie 'Krieg der Knöpfe' oder 'Clochemerle'.
Das Dorf hatte zwar eine eigene freiwillige Feuerwehr, die aber lange nicht mehr im Einsatz gewesen war. So stand die handbetrieben Feuerspritze seit Jahren in einer Scheune. Als es dann eines Tages brannte, zogen die Männer den Wagen aus der Garage und versuchten zu löschen - aber die Schläuche waren rissig und von Mäusen zefressen - das Wasser spritzte überall heraus, nur nicht, wo es sollte. Irgendwie gelang es dann doch, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen und bei Flore quartierten sich über Nacht Männer als Brandwache ein. Flore meinte dazu, sie hätten vor allem ihren eigenen Brand, also Durst gelöscht. Eine Geschichte wäre fast tragisch geendet, ein Dorfbewohner hatte im Bistro um die Ecke zuviel getrunken und verwechselte - so meinte er später jedenfalls - den Hauseingang. Er landete im Schlafzimmer seines besten Freundes neben dessen Frau und als dieser heimkam, fand er seinen Kumpel schnarchend in seinem Ehebett. Flore erzählte mit Lachtränen in den Augen, es habe eine wüste Schlägerei zwischen den Männern gegeben, bis sich der Irrtum herausgestellt habe. Es ging, wie überall auf dem Land, auch in Saint Benin eben handfest zu. Eines |
Im Hintergrund das Viadukt 2015
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Tages wurde ein geschätzter Bewohner zu Grabe getragen. Der Friedhof lag, damals wie heute, direkt an der Bahnstrecke, unweit des Viadukts. Der Bürgermeister sollte die Grabrede halten, aber jedes mal wenn er beginnen wollte, wurde er durch das Rattern vorbeifahrender Züge unterbrochen. Irgendwann platzte ihm der Kragen und er begann laut zu Fluchen - das konnte die Trauergemeinde aber hören, denn in diesem Moment kam kein Zug vorbei. Der einzige, den das nicht gestört haben dürfte, war der Friedhofswärter. Er war hartgesotten und schlief häufiger seinen Rausch in einer der kleine Grabkapellen aus - sein Schnarchen dürfte manchen Passanten im Dunkeln erschreckt haben. Auch die große Politik zeigte Spuren im Dorf. Alljährlich kam eine katholische Heiligenprozession mit dem Dorfpfarrer zu einem Platz im Dorf. Genau im Haus gegenüber wohnte eine kommunistische Familie. Die liessen es sich nicht nehmen, den Aufmarsch der Katholiken mit Roten Fahnen und lauter Musik aus dem Grammophon zu 'begleiten'. Viele Dorfbewohner waren Arbeiter der umliegenden Fabriken und für die war klar: 'Man wählt nicht den Patron' - also Konservativ.
Die gläubige Katholikin Flore erzählte uns einige Jahre vor ihrem Tod, man habe vor einiger Zeit den Priester verhaftet, weil er sich als Betrüger herausgestellt habe - und dabei lachte sie. Da die katholische Kirche Frankreichs unter Personalmangel leidet, bereist ein Priester die verschiedenen Dörfer, um in den Kirchen eine Messe zu lesen und später stellte sich heraus, dass er gar kein Geistlicher gewesen war.
Flore wurde nach ihrem Tod am 25.November 1988 mit einer Messe in der Dorfkirche verabschiedet. Dazu kam ein Priester, die Messe musste bezahlt werden und so ging während der Zeremonie mehrfach ein Messdiener mit einer Spendenschale herum. In Frankreich gibt es keine Kirchensteuer und der Volksmund sagt: Wenn Du wissen willst, wie geizig und gläubig die Leute sind, schau dir an, wie der Curé lebt. Flore wurde nach dem Gottesdienst in einem Leichenwagen, voran ein Priester mit Messdienern und gefolgt von uns und einigen ältere Dorfbewohnern, vom Kirchplatz die Dorfstraße hinauf bis zum Friedhof begleitet. Dort wurde sie im dazu geöffneten Familiengrab beigesetzt. Ein vorwinterlicher Tag, an dem es regnete und ein kalter Wind blies.....wie zu dieser Jahreszeit üblich.
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