Montag, 11. April 2022

Meine Deutsch-Französische Familie Teil VI

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Revolution - Republik - Krise

 
Der Krieg war vorbei, aber überall in Deutschland bekam man jetzt die Folgen zu spüren. Die Blockade der Entente blieb auch nach Kriegsende im Jahr 1919 bestehen. Das Bürgertum war in den Kriegsjahren verarmt, die verkauften Kriegsanleihen konnte der Staat nicht zurückzahlen. Beides führte zu einer massien Staatsverschuldung und Inflation. In Gronau kam die Wirtschaft nur langsam wieder in Schwung, es wurden für die Niederlande vermehrt Garne produziert und daher arbeiteten viele Gronauer im Nachbarland. Positiver Nebeneffekt, man wurde in Gulden bezahlt und konnte in den Niederlanden damit einkaufen.
 
Bereits im letzten Kriegsjahr hatten an der Grenze Schmuggel und Schwarzhandel geboomt. Auch gutbürgerliche Kreise beteiligten sich, um an begehrte Ware zu kommen. So kleidete sich auch Frieda Ressing an einem Morgen sorgfältig an, mit langem schwarzem Mantel und großem

Hut. Sie nahm den fünfjährigen Heinz an der Hand und machte sich auf den Weg zur nahegelegenen Grenze. In Enschede kaufte sie Kaffee und versteckte ihn unter ihrem Hut. Als sie auf dem Rückweg an der Glaner Brücke vom deutschen Zöllner angehalten wurde, fragte er: "Haben Sie etwas anzumelden?" Frieda nahm allen Mut zusammen: "Nein" - da fragte der kleine Heinz laut: "Aber Mama, warum
trägst Du unter dem Hut die Kaffeetüte?" Frieda erstarrte wie Lots Weib, wurde kalkweiss und stotterte, glücklicherweise hatte der Zöllner seinen sozialen Tag, er lächelte und ließ die Dame aus gutem Hause samt Sprössling passieren. Das war der erste und letzte Versuch der hochmoralischen Frau, etwas über die Grenze zu schmuggeln. Vor allem Kaffee war eine begehrte Ware, manche fuhren regelmäßig mit dem Fahrrad über die Grenze und füllten in Enschede Kaffebohnen in ihre Reifen. Dann kehrten sie mit knirschenden Rädern zurück - und verkauften ihn - brühfertig gemahlen.
 
Auch Gronau wurde von den Unruhen im Reich eingeholt. Man las erschaudernd in der Zeitung von den Kämpfen Anfang 1919 in Berlin, der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie von der Zerschlagung der Münchner Räterepublik. Im März 1920 wollten rechtsgerichtete Militärs und Politiker die Reichsregierung stürzen. Gegen den Kapp-Putsch streikten auch in Gronau die Arbeiter und besetzten die Fabriken. Der Staatsstreich brach nach wenigen Tagen  zusammen, danach zerschlugen die Reichswehr, das Bürgertum und die in Gronau starke katholische Arbeiterbewegung die Besetzung der Fabriken durch revolutionäre Arbeiter. Von dem am 9.November 1923 gescheiterten Putschversuch in Bayern bekam man in Gronau nur am Rande etwas mit - wer war schon dieser Adolf Hitler? Gronau war und blieb eine konservativ-katholische Region, SPD und KPD kamen 1924 zusammen gerade einmal auf 10% der abgegebenen Stimmen (reichsweit waren es 34%). Von der 1923 begonnen Besetzung der linksrheinischen Gebiete und des Ruhrgebietes durch Entente-Truppen blieb Gronau zwar verschont, die Folgen waren aber auch hier zu spüren. 

Bürgerlicher Alltag in der Republik

 
Heinz ging jeden Morgen zur Volksschule, die Jungen warteten nach dem letzten Läuten der Glocke im Klassenraum auf ihren Lehrer. Als er eintrat, grüßten die Schüler stramm und laut. Was dann kam, war den Zeiten geschuldet: "Was kostet heute das Brot? Was kostet die Milch?" fragte der Lehrer. Viele Schüler kamen aus Familien, die in Gronau Lebensmittelgeschäfte hatten.
Nachdem der Lehrer die aktuellen Preise aufgeschrieben hatte, schickte er einen Jungen mit dem Zettel zu seiner Frau, die sofort Einkaufen ging. Die Geldentwertung war rasend schnell, der Preis für ein Brot stieg innerhalb weniger Stunden um einige Millionen Reichsmark.
Für die Regierung  in Berlin war die Inflation praktisch, konnte man doch den defizitären Etat sanieren. Die einst für Reichsmark verkauften Kriegsanleihen und damit die Staatsverschuldung wurde mittels rasender Inflation wertlos. Wer ein Sparkonto bei der Bank hatte, verlor sein Vermögen, für Heinrich Ressing dürfte es in seiner Sparkasse viel Arbeit mit aufgebrachten Kunden gegeben haben. Seine Familie selbst war von der finanziellen Katastrophe anscheinend nicht betroffen. Kurz nach Kriegsende waren die Ressings in ein zweistöckiges Haus in der Bismarckstrasse gezogen. Dem Sparkassendirektor und seiner Familie ging es auch in der Republik weiterhin gut, so konnte man sich weiterhin eine Haushaltshilfe leisten.
 
Wie standen Heinrich und Frieda Ressing zur Weimarer Republik? Der beamtete Sparkassendirektor verhielt sich zumindest loyal. Heinz charakterisierte später einmal sein Elternhaus als „Nationalbürgerlich“. Vater Heinrich tendierte demnach zwischen der liberalen „Deutschen Volkspartei DVP“ (Stresemann) und der rechten „Deutsch-Nationalen Volkspartei DNVP“ (Hugenberg). Die DNVP kämpfte einerseits gegen den Versailler Vertrag, war aber vor allem erzkonservativ und antisemitisch. Damit dürfte der kulturell aufgeschlossene und liberal eingestellten Heinrich wenig übereingestimmt haben. Allerdings waren damals gerade im Bürgertum politische Einstellungen schnell wechselnd. Insgesamt war Politik Männersache, was Frieda dachte ist unbekannt. Heinrich Ressing boten sich jedenfalls in seiner Position Wege, der Inflation ein Schnippchen zu schlagen. So besaß er einen kleinen Goldbarren und damit finanzierte er eine Urlaubsreise für die gesamte Familie auf die Nordseeinsel Norderney. Vater, Mutter, Heinz und die kleine Käthe fuhren gemeinsam mit der
Eisenbahn bis an die Küste und dann per Fähre auf die Insel. Dort hatte Heinrich einem Hotelier den Goldbarren versprochen, im Gegenzug für freie Unterkunft und Verpflegung. Allerdings war der Mann misstrauisch und er tauchte fast jeden Tag am Restauranttisch der Ressings auf, um ihn sich zeigen zu lassen.
 
 

Liberale Bildung im Real-Gymnasium

 

Heinz war ein aufgeweckter Junge und kam Ostern 1922 als Neunjähriger, nach bestandener Aufnahmeprüfung, in die Oberrealschule. Die in Gronau später zum Real-Gymnasium aufgewertete Schule unterschied sich von klassischen Gymnasien, in denen immer noch vor allem Latein und Altgriechisch gelehrt wurden. Heinrich wollte aber, dass sein Sohn moderne Lehrfächer und Sprachen lernt, Englisch und Französisch. Das von der Weimarer Republik eingeführte neue Schulsystem war reformpädagogisch ausgerichtet, dazu gehörte auch die Einbeziehung der Schüler in die Selbstverwaltung. Erstmals in der deutschen Schulgeschichte wurden Klassensprecher und Schülervertretungen gewählt. Den Jugendlichen sollten so demokratische Spielregeln und das Gefühl von Mitverantwortung für die Republik vermittelt werden. Heinz war ein guter Schüler und war drei Jahre lang Klassensprecher. "Politik war nichts für Jugendlich damals" schrieb Heinz rückblickend. Er schloss sich einer der sogenannten 'Wilden Gruppen' an, unorganisierte Jugendliche "Wir gingen (...) auf Fahrt. Mehr wollten wir eigentlich nicht."
 
Im Gronauer Realgymnasium unterrichteten liberal und demokratisch eingestellte Lehrer. Sie wollten die Schüler zu selbstständigem Handeln erziehen, ließen sie über aktuelle Fragen der Zeit diskutieren. Die älteren Schüler durften selber eine Unterrichtseinheit zum Thema: „Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart“ erstellen. Ein Lehrer beeindruckte die Jungen mit Erzählungen über seine Zeit als Kriegsgefangener in Russland – dort hatte er zwischen 1917 und 1922 die Februar- und die Oktoberrevolution miterlebt und den folgenden Bürgerkrieg. Im Frühling 1929 fuhren die 16-jährigen Jungs gemeinsam mit ihrem Lehrer auf Klassenreise nach Großbritannien. Damals lag der blutige Weltkrieg gerade einmal elf Jahre zurück – der Besuch war also wirklich keine Selbstverständlichkeit. Als Heinz zurückkam, erzählte er seiner Schwester Käthe begeistert über seine Erlebnisse. Die Schüler durften das berühmte „Boat Race“, die Regatta zwischen den Rudermannschaften der Universitäten von Cambridge und Oxford vor Ort miterleben - das favorisierte Team aus Cambridge siegte erneut. Schwer beeindruckten Heinz auch die luxuriösen Kinos der britischen Hauptstadt, er schwärmte Käthe von den großen Clubsesseln vor, in denen man versank – manche Leute rauchten während der Vorführung. Diese Eindrücke weckten bei Heinz das Interesse an weiteren Reisen und so radelte er Anfang der 1930er Jahre mit dem Fahrrad in den Schulferien durch die Niederlande, Frankreich und die Schweiz. 
 

Spannungen in der Familie

 
Das Famlienleben verlief mit den Jahren immer weniger harmonisch und der sensible Heinz litt darunter mehr, als seine resolute Schwester Käthe. Er bekam schon als Jugendlicher Magenprobleme und musste noch während der Abiturprüfung in ein Sanatorium nach Elberfeld. Eine Ursache für den Stress waren die wachsenden Konflikte zwischen den Eheleuten - sie waren einfach zu unterschiedlich. Heinrich war ein weltoffener Hallodri und Schürzenjäger. Die pietistische Frieda dagegen eher verklemmt und naiv, nach Käthe Erzählung habe ihre Mutter lange geglaubt, sie könne vom Küssen Kinder bekommen. Eines Tages kam es zu offenem Streit zwischen den Eltern, Frieda rief: "Ich laufe noch davon". Vater Heinrich drohte ein anderes mal, die Familie zu verlassen, worauf seine Frau geschrien habe: "Dann geh' doch!"
 
Zu dem Konflikt zwischen den Eheleuten kam noch ein Mix aus bürgerlicher Wohlanständigkeit und sektiererischer Religiosität. Heinrich und Frieda gehörten der 'Brüderbewegung' an, einer sektenartigen Freikirche, die Katholiken und Protestanten vereinen wollten. Sie hatten weder eine organisierte Kirche, noch Priester, sondern man traf sich regelmäßig zu gemeinsamen Bibelstunden. Dabei sollte jeder die Heilige Schrift wörtlich und  handlungsanweisend befolgen. Platz für jugendliche Freiheit und Expermientieren blieb da den Geschwistern nicht. 
 
Es war im Jahr 1931, Heinz war 18 und Käthe 16 Jahre alt. Eines Abends waren die Eltern zur regelmäßig stattfindenden Bibellesung gegangen und die Geschwister kamen auf die Idee, in den Kleiderschränken ihrer Eltern zu stöbern, um sich zu kostümieren. Heinz zog sich den Frack seines Vaters an und malte sich mit Buntstift ein Blaues Auge. Käthe staffierte sich als 'Lieblingsfrau des Maharadschas' aus und man amüsierte sich vor dem großen Spiegel. Sie vergaßen dabei die Zeit und plötzlich klingelte es an der Tür. In ihrer Kostümierung öffneten sie und standen vor ihren Eltern, die nach Hause gekommen waren. Mutter Frieda blickte die beiden entrüstet an und gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. 
 
Käthe mit 14 Jahren
Heinz liebte seine Schwester, er sagte ihr einmal: „Schade dass Du meine Schwester bist. Dich hätte ich geheiratet!“ Käthe war seine wichtigste Vertraute, der er als einziger Person sein Herz ausschütten konnte. Während sie aber Aufsässig und Widerspenstig war, schluckte er allen Stress herunter. Als Käthe ihn einmal aufforderte, sich gegen die Eltern zu wehren, antwortete er: „Wir müssen warten, bis sie tot sind.“ Heinz wurde mit der Zeit verschlossener – sein einziger richtiger Freund, war der Sohn des Hausarztes – er fiel in Stalingrad.
 
 

 

 

Wetterleuchten

 
Der Ende der 1920 Jahre überall wachsende Antisemitismus scheint bei den Ressings nicht auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Die Stadt hatte 1925 eine kleine jüdische Gemeinde mit 39 Mitgliedern, acht Jahre später war sie auf rund 60 Menschen angewachsen. Etwa 53% der Einwohner waren Evangelisch, 45% Katholisch, 1,6% Mitglieder anderer Religionen und 0,2% jüdischen Glaubens mit eigener Synagoge. In Gronau waren viele Juden Teil der bürgerlichen Honoratioren. Im Jahr 1928 gelang es, nach langen Bemühungen und Spenden, dem jüdischen Zahnarzt Julius de Witt Schützenkönig zu werden. Bei ihm waren auch die Ressings in Behandlung, der Doktor galt als national eingestellter Monarchist. An jedem Feiertag hängte er die Schwarz-Weiß-Rote Fahne des untergegangenen Kaiserreichs aus dem Fenster. Auf einem alten Foto, das mir Käthe einst zeigte, sah ich einen Mann, der stolz den hochgezwirbelten Schnurrbart a la Kaiser Wilhelm trug. 
 
Nach 1933 gelang es Dr. de Witt und seiner Familie in die Niederlande zu entkommen, nach dem deutschen Einmarsch 1940 wurden er mit seiner Frau und der Tochter in ein Vernichtungslager im Osten deportiert. Während die Mutter im nordböhmischen Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben kam, überlebten Vater und Tochter den Holocaust. Die letzten Angehörigen der jüdischen Gemeinde Gronaus wurden 1942 in die Vernichtungslager verschleppt - Widerstand hatte es dagegen nicht gegeben. 
 
Abiturklasse

Im Frühjahr 1931 bereitete sich Heinz auf seine Abiturprüfung vor, dafür verfasste er einen Lebenslauf. Sein Berufswunsch formulierte er so: „Nach meiner Reifeprüfung gedenke ich mich der journalistischen Laufbahn zu widmen.“ Ob Vater und Mutter davon begeistert waren, ist zu bezweifeln - als Seriös galt der Journalismus in bürgerlichen Kreisen gerade nicht. Seinen Traum, eine Karriere als Schiffsoffizier oder Sportlehrer, musste er sich wegen seiner Gesundheitsprobleme aus dem Kopf schlagen, daher wollte er in der Kleinstadt mit ihren damals rund 17.000 Einwohnern, Journalist werden - ohne ganz genau zu wissen was das ist. Dafür stellten ihm im Mai 1932 die „Gronauer Nachrichten“ einen Presseausweis aus. Dort findet sich unter dem Bild des frischen Abiturienten der Satz: „Berichterstatter für die Gronauer Nachrichten“ und somit „berechtigt bei besonderen Veranstaltungen die polizeilichen Absperrlinien zu durchschreiten“. Der Ausweis mit dem Verlags-Logo war durch einen Stempel mit Dienstsiegel der Stadt plus Signatur der örtlichen Polizeiverwaltung offiziell bestätigt. Heinz begann seine journalistische 'Laufbahn' in sehr bewegte Zeiten, die Wirtschaftskrise nach dem US-Börsenkrach 1929 hatte in Deutschland zum Zusammenbruch mehrerer Banken und massiver Arbeitslosigkeit geführt. Überall stieg die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der wachsenden Nazipartei und ihrer SA-Schlägertrupps. Auch in Gronau gab es damals bereits eine Ortsguppe der NSDAP, die sich aber nicht besonders hervortat. 



 
 

 

 
 
 


 
 

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