Montag, 5. Dezember 2022

Wissembourg im Elsass - Ein Weihnachtsmärchen

Wissembourg Stadtmauer 3. Dezember 2022


 

Wer das Elsass besucht, hat dabei zumeist die Region um Colmar und Straßbourg im Auge. Weinorte wie Riquewihr am Fuß der Vogesen, ziehen jedes Jahr tausende von Besuchern an. Sie locken mit schön restaurierten Fachwerkhäusern, noblen Hotels und gemütlichen Weinstuben - wirken oft aber ein wenig wie Theater-Kulissen. Wir bevorzugen dagegen den ruhigeren Norden des Elsass: Wissembourg, Woerth, Hagenau und Saverne. Viele Besucher aus Deutschland, dem Rhein-Main-Dreieck und Karlsruhe verbringen hier ein Wochenende - zum Wandern und vor allem wegen der französisch-elsässischen Delikatessen - von Choucroute, Munster Käse über Eclair bis Gugelhupf. 





Wissembourg im Advent



Vor allem in der Adventsszeit kommen viele Deutsche zum beschaulichen Weihnachtsmarkt von Wissembourg. Die kleinen Holzhütten laden an den Advents-Wochenenden rund um die Hauptkirche und im Hof der Sous-Préfecture zum Besuch ein. Hier gibt es Spezialitäten der Region, Wurst und Käse aus dem Elsass, Erbsensuppe,
Crêpes, Bratwurst und Glühwein - weiß und rot. Geschenkartikel werden angeboten. Eine besondere Attraktion der Advendszeit sind die Aufführungen der örtlichen Theatergruppe 'Ex Nihilo' (1). Dabei erzählen die Laien-Darsteller in Kostümen in der bunt beleuchteten Szenerie am Abend Geschichten 

  


 
und Weihnachtliches. Bei unserem Besuch am 3. Dezember 2022 waren wir, angesichts der klirrenden Kälte, von der Standthaftigkeit der DarstellerInnen wirklich beeindruckt. Sie zogen mit ihrem Publikum am Graben der Stadtmauer entlang und präsentierten im Scheinwerferlicht in den aufgebauten Kulissen Historien aus Wissembourg. So lebte hier im 17.Jahrhundert der exilierte polnische König samt Hofstaat. Mein Tipp für kälteempfindliche Besucher: Es gibt auch im Sommer Aufführungen - am Schluss mit Feuerwerk. 

Wissembourg liegt direkt an der französisch-deutschen Grenze, durch den beschaulichen Ort mit seiner alten Stadtmauer fließt die 'Lauter'. Der Pfälzer Wald liegt weniger als fünf Kilometer entfernt. Auf der Anhöhe über der Stadt steht das 'Deutsche Weintor', dessen Architektur sofort verrät, das es in der Nazizeit errichtet wurde. Man wollte dem 'Welschen Erbfeind' im Tal die neue Macht des NS-States zeigen. Einst flatterte hier an der Reichsgrenze eine große Hakenkreuz-Fahne, den Adler mit Hakenkreuz entfernte man 1945 - das scheußliche Tor steht aber immer noch. 

Heute friedliche Region - lange umkämpft

Wissembourg hat heute knapp 7500 Einwohner, ein beschaulicher Touristenort, der einst - wie das gesamte Elsass - politischer Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland war. Nach dem dreißigjährigen Krieg gehörte die Region zum französischen Königreich. Das deutsche Kaiserreich verleibte sich das Elsass 1870/71 nach dem Sieg über Frankreich ein, das sich die Region nach dem ersten Weltkrieg zurückholte. Während des Zweiten Weltkrieges annektierte der NS-Staat das Elsass erneut. Im Ersten- und Zweiten Weltkrieg mussten tausende junge Elsässer für Deutschland in den Krieg ziehen. Die letzten Kämpfe im Nordelsass endeten erst Anfang 1945, nach Kriegsende wurde die Region Elsass endgültig franzöisch.

Französisch 1784
Die wechselnde Geschichte, mit den Staaten die über die Region herrschten, belegen heute noch die Architektur alter Häuser der Stadt. Neben  Fachwerkhäusern und Palais aus französischer Zeit wurden ab 1871 Gebäude im wilhelminischen Stil der Gründerzeit errichtet. Macht repräsentierte sich auch durch die Kasernen des preussischen Militärs - man traute nämlich der Loyalität der Elsässer nicht. Für die Bevölkerung war das Leben in den letzten 150 Jahren kein Zuckerschlecken. Nach 1870/71 und zwischen 1939-45 durften nicht französisch gesprochen werden, französische Beamte und Lehrer mussten das nun 'deutsche Elsass' verlassen - dafür 'revangierten' sich die Franzosen
 Deutsch um 1890

nach 1918 und 1945. Deutsch oder Elsässisch sprechen war bis weit in die 1960er Jahre  verpönt. Die ElsässerInnen galten mit ihrem Regionalstolz lange als 'unsichere Kantonisten'. Den Absurden Streit um die Identität der Region kann man im Nordelsass an der Geschichte alter Denkmäler der vielen Kriege erkennen. Die jeweiligen Sieger entfernten die der Besiegten - heute erinnern sie friedlich nebeneinander an die tragische Geschichte der Region.

Bayerischer Helm - Französisches Tschako

Im Sommer 1870/71 waren Wissembourg und die Region im Norden Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Truppen des französischen Kaisers Napoleon III. und deutschen Soldaten gewesen. Am 4.August 1870 stürmten preussische und bayerische Truppen von den Pfälzer Anhöhen die Stadt, Soldaten des französischen Kaisers wurden überrascht, waren personell und materiell unterlegen. Es standen 30.000 Deutsche nur etwa 6000 Soldaten Napoleons gegenüber. 

Während der Schlacht wurden etwa 1700 französische und deutsche Soldaten getötet oder verwundet. Das Deutsche Reich ließ nach der Annektion 1871 Denkmale für seine 'Helden' errichtete, die Frankreich dann nach 1918 entfernen ließ und durch eigene ersetzte - zwischen 1939 und 1945 geschah dies erneut. Heute findet man in der Region viele restaurierte Erinnerungen und kleine Museen des Krieges 1870/71 - ein französisches Denkmal wurde noch 2005 errichtet. 

 Über die Geschichte der Stadt und seine deutsch-französische Vergangenheit bietet das Gebäude der Unterpräfektur von 1784. Auf einer Etage ist der Bestand der Sammlung des einstigen Museums 'Westercamp' untergebracht. Das Museum befand sich bis 2002 in einem alten Bauernhof der Stadt, musste aber aus Sicherheitsgründen den Standort wechseln. Gründer der Sammlung war Paul Westercamp, Notar in Wissembourg und Sammler, der das Museum zusammen mit dem
dem Heimatverein ab 1872 aufbaute, es wurde offiziell am 12.Mai 1913 eröffnet. Heute bietet das kleine Museum Artefakte aus römischer Zeit, Möbel und Trachten des 19.Jahrhunderts. Alte Uniformen und Waffen dokumentieren die tragischen Ereignisse von 1870.   

Viele Besucher kommen nach Wissembourg aber nicht wegen seiner bewegten Geschichte, sondern um zu Wandern oder die alte Stadt zu genießen. Restaurants und Cafés laden, oft hinter alten Fassaden, zum Besuch ein. Wissembourg wirkt aber nicht wie das 'Disney-Alsace' im Südden der Region, in der Stadt leben und arbeiten Menschen - grenzberschreitend. Deutsche haben sich in den letzten Jahrzehnten  Feriendomizile im Nordelsass gekauft. Lezteres hat dabei durchaus auch für Unmut unter Einheimischen gesorgt, sie fürchten, dass die Deutschen die Preise verderben. Im Gegensatz zu früherer Zeit, in der das Elsass als Randgebiet der Republik galt, zählt es heute zu den wohlhabenden Regionen Frankreichs. Im Sommer hier eine Unterkunft zu finden, ist nicht leicht, auch die Restaurants sind an Wochenende oft ausgebucht - man sollte reservieren - kein Problem, denn viele verstehen und sprechen hier Deutsch.


Frohe Weihnachten - Joyeux noël




 

 

 

Info:

https://de.wikipedia.org/wiki/Wissembourg

(1) https://www.exnihilowissembourg.com/preface  

Siehe auch: https://1913familienalbum.blogspot.com/2023/08/wissembourg-im-elsass-ein-sommertraum.html

Montag, 6. Juni 2022

Meine deutsch-französische Familiengeschichte Teil XI

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Vom 'Erbfeind' zum Liebespaar



Fernande Kommunion
Meine Mutter Fernande hat nie gerne über ihre Kindheit und Jugend in Sant Benin erzählt. Nach ihrem Tod, im Dezember 1976 in Hamburg, sprach ihre Mutter Flore nur wenig über das Verhältnis zur Tochter. Es war schwierig gewesen, Fernande hatte sich für die ärmlichen Verhältnisse geschämt, in denen sie aufgewachsen war. Ihre Mutter hatte seit der Rückkehr aus Lille 1946, in Saint Benin gelebt, sie starb dort 1988. Fernande hat sich immer für das kleine Haus, den verwilderten Garten, sowie den Kaninchenstall mit dem P
lumps-Klo nebenan geschämt. Ein Milieu, aus dem sie immer entkommen wollte und sich nur ungern daran erinnerte.
 
Sommerferien am Meer
Fernande Henriette Aubry wurde am 15.Februar 1923 in Saint Benin geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters, sie war fünf Jahre alt, lebten sie und ihre Mutter mit dem Großvater zusammen. Nach dem der jähzornige Mann 1932 gestorben war - Fernande war Neun - wohnten Mutter und Tochter hier fortan alleine. Flore konnte nach der Geburt Ferandes keine Kinder mehr bekommen und hat auch nie wieder geheiratet. Sie versuchte  ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Dabei habe sich Fernande zu einer kleinen 'Despotin' entwickelt - sagte nach ihrem Tod Flore etwas verbittert und nachdenklich. Die Mutter wollte der Tochter eine höhere Bildung und damit ein besseres Leben  ermöglichen. Sie sollte nicht, wie ihre Mutter, später in einer Fabrik schuften müssen. Mitte der 1930er Jahre reformierte die Volksfrontregierung das Bildungssystem Frankreichs, Frauen erhielten bessere Aufstiegschancen. Flore und Fernande zogen nach Lille, denn in der Großstadt konnte die Tochter einen höheren Schulabschluss machen. Kurz vor Kriegsbeginn bereitete sie sich auf das 'Baccalaureat' vor. Wären nicht die Tuberkulose und der Krieg dazwischen gekommen, hätte sie vielleicht sogar studieren können. 
 
Fernande (links) am Filmset
Die junge Frau liebte das Kino und schwärmte für die Filmstars. In Frankreich gab es damals 4250 Kinos, die seit Mitte der dreißiger Jahre  Tonfilme zeigten. Fernande lief fast jedes Wochenende von Saint Benin in das nahegelegenen Städtchen Le Cateau, um dort im Kino die neuesten Filme aus Frankreich und Hollywood zu sehen. Sie schwärmte für den Macho Jean Gabin, lachte über Fernandel und bewunderte die Diva Danielle Darrieux. Später suchte Fernande in Lille Kontakte zu Filmleuten - das deutet zumindest ein Foto aus dieser Zeit mit einer kostümierten Frau vor einer Kulisse an.
 
Noch ist Frieden: Fernande (links)
Am 1.September 1939 begann der Zweite Weltkrieg, der aber bis Mai 1940 in Frankreich ohne große Kampfhandlungen verlief. Die Soldaten lagen sich gegenüber, geschossen wurde selten, man nannte das 'drole de guerre' - bei den Deutschen 'Sitzkrieg'. Fernande und Flore fühlten sich, wie die meisten Franzosen, durch die Befestigungsanlagen der Maginot-Line geschützt - die von der Schweiz bis an die Südgrenze Belgiens in den Ardennen verlief. Die 17-Jährige Fernande hatte zudem schwere gesundheitliche Probleme, die sie vom Krieg ablenkten. Sie mussten wegen Tuberkulose in ein Sanatorium in den französischen Ardennen - eine Krankheit, vor der sie sich bis zu ihrem Tod gefürchtet hat.
 
Aber genau durch diese bewaldete Gegend, mit seinen engen Tälern und angeblich für Panzer nicht passierbaren Straßen, stieß am 10. Mai 1940 Hitlers Wehrmacht nach Frankreich vor. Wo sich das Sanatorium Fernandes genau befand, ist unbekannt, sie versuchte mit einer Freundin zu Fuß nach Lille zu gelangen. Davon erzählte sie Jahrzehnte später - immer noch mit Schrecken. Die Angriffe deutscher Tiefflieger mit ihren Maschinengewehren und Bomben auf mit Soldaten und Flüchtlingen vollgestopfte Straßen. Besonders das Geheul der Sirenen angreifender Stukas hat sie nie vergessen. 
 
Fernande erreichte in dem Chaos irgendwie Lille, ob vor oder nach den schweren Gefechten dort (28. - 30.5.1940), weiß ich nicht. Sie war jedenfalls wieder mit der Mutter vereint, die einmal erzählte, sie habe nach der Eroberung auf der Grand Place eine große Gruppe deutscher Militärs gesehen. In ihrer Mitte habe ein Mann "avec une moustache comme Charlot" - (Charlie Chaplin), gestanden. Es war Adolf Hitler, der kurz nach der Einnahme der Stadt die Region besucht hatte, in der er während des Ersten Weltkrieges stationiert gewesen war. In Le Cateau war ihm 1918 das Eiserne Kreuz verliehen worden.
 
Das Leben war für Fernande und Flore, die zum zweiten mal eine deutsche Besatzung erlebte, nicht einfach. Es gab keinen männlichen Ernährer, sie mussten sich selber durchschlagen. Immerhin konnten sie in Lille bleiben, obwohl die deutschen Besatzer die Rückkehr von Flüchtlingen in die Region, nach dem Waffenstillstand zuerst untersagt hatten. Womit Flore und Fernande ihren Lebensunterhalt verdienten, ist unbekannt - Lille war ein großes Industrie-Zentrum. Man war mit der Bewältigung des Alltags vollauf beschäftigt, während es sich die Besatzer auf ihre Kosten gut gehen liessen. Viele Franzosen 'arrangierten' sich damals mit den Besatzern, manche bewunderten die 'Sieger' und nicht wenige kolaborierten. Dies propagierte in Vichy, im unbesetzten Frankreich, der diktatorisch regierende Präsident, Philippe Petain - Antidemokrat und Antisemit.
 
Lille wurde zum Zentrum der Besatzungsverwaltung für Nordfrankreich und Belgien. Hier erschienen Zeitungen für die deutschen Soldaten, aber auch für die Bevölkerung, die von Heinz und seinen Mitarbietern produziert wurde. Mit der
Heinz beim 'Echo du Nord' Lille
Propagandakompanie (PK) 501 der 26. Armee war er im Juni 1940 zuerst nach Paris und dann nach Lille beordert worden. Im März 1941 wurde er zur PK 695 bei der 15.Armee versetzt. Neben diesen mobilen Einheiten wurden fest stationierte Propaganda Abteilungen in besetzten Verlagen der Region eingerichtet, die man besetzt hatte. So konnten Redaktionsräume und Druckereien für die Propagandaarbeit genutzt werden
Lille Heinz 2.von rechts
. Heinz arbeitete als leitender Redakteur, dabei beschäftigte er auch einheimische Mitarbeiter. Er  profitierte davon, im Dienst wie privat keine Uniform tragen zu müssen. Das erleichterte und förderte seine privaten Kontakte zur einheimischen Bevölkerung. In Punkto Frauen ließ er jedenfalls "nichts anbrennen", lästere Jahrzehnte später seine Schwester Käthe. Bei ihr, die damals in Straßburg im okkupierten Elsass lebte, sei eine junge Französin aufgetaucht. Sylviane war eine Ex ihres Bruders und er hatte seine Schwester gebeten, ihr bei der Arbeitssuche zu helfen. Sie ging mit ihr zur Geheimen Staatspolizei, um eine Arbeitsgenehmigung zu erbitten. Sylviane bekam einen Job in einem Flieger-Kasino - und verschwand, als die Alliierten sich 1944 der Stadt näherten. 

Heinz und Fernande

 

Der 27-Jährige Mann, 1,82 Meter groß, blond und schlacksige Heinz sprach gut Französisch und trat vor allem nicht mit der Arroganz des 'Siegers`' auf. Die französischen Beschäftigten in Redaktion und Druckerei merkten bald, das er kein Linientreuer Nazi war und Distanz zum NS-Regime zeigte. So gelang es ihm schnell, Kontakte zu knüpfen und als Vorgesetzter drückt er oft ein Auge zu, wenn Mitarbeiter illegale Geschäfte tätigten - 'Schwarzhandel' war damals überlebenswichtig. Einige seiner Leute hatten auch Verbindungen zum Widerstand, der 'Resistance' - und Heinz wusste davon.
 
Er konnte als `Sonderführer' seiner Propagandabteilung in Lille ein bequemes Leben führen, hatte eine eigene Wohnung in der Nähe des Bahnhofs. Obwohl militärisch nur Unteroffizier, musste Heinz als 'Sonderführer' nicht in einer Kaserne oder Massenunterkunft leben. Das förderte seine Beziehungen zur Zivilbevölkerung - männlich, wie weiblich. 
 
Fernande um 1940
Wann er genau Fernande kennenlernte, ob bereits 1940 oder erst nach der Rückkehr aus Russland im Herbst 1941 ist unklar. Die Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Komik. Heinz hatte Dienstfrei und verbrachten den Abend in seiner Wohnung, da klopfte es an seiner Tür. Er hatte niemanden erwartet und war umso überraschter, als vor ihm eine junge Frau stand, die ihn ebenso erstaunt anblickte. Er bat sie hinein und fragte, wer sie sei und was sie von ihm wolle. Sie antwortete unsicher, sie sei hier mit einer Freundin verabredet. Des Rätsels Lösung: Ein französischer Kollege von Heinz wollte mit seiner Freundin ungestört einen Abend verbringen. Um aber den 'Guten Sitten' nicht zu widersprechen, hatte er gegenüber ihren Eltern behauptet, man würde sich zu Viert treffen. Weder Heinz noch Fernande wussten aber von diesem Arrangement. Nun standen sich die kleine Frau,  braunes, volles Haar, rundes Gesicht und geschminkt - dem 'blonden Germanen' gegenüber. Man plauderte und gefiel sich wohl gegenseitig, denn Heinz konnte sehr charmant sein. Fernande wiederum war hübsch, weiblich und widerprach mit ihrem Chiq und dem Makeup positiv dem 'Arischen' Frauenbild. Jahre später meinte Fernande: "Ja ja, eine Deutsche Frau schminkt sich nicht - aber bei uns rannten die Soldaten damals jeder Französin mit Lippenstift und gezupften Augenbrauen hinterher." 
 
Fahrausweis
Wie lange es dauert, bis beide ein Liebespaar wurden, weiß ich nicht, auch nicht, wann Flore den jungen Deutschen als 'Schwiegersohn' in spe kennenlernte. Wie sie über die Beziehung ihrer Tochter zu dem Deutschen dachte? Jedenfalls setzte Fernande ihren Kopf durch, sicherlich dürfte er sie und ihre Mutter materiell unterstützt haben. Da Heinz ja eine eigene Wohnung hatte, übernachtete Fernande oft bei ihm. Es muss 1944 gewesen sein, als sie mitten in der Nacht durch einen allierten Bombenangriff auf das Bahngelände aufgeschreckt wurden.  Fernande warf sich einen Mantel über - darunter war sie Nackt - und flüchtete mit Heinz in den Keller. Davon erzählte sie noch Jahrzehnte später lachend.
 
Für seine Karriere war die Verbindung zu Fernande schädlich,
er hatte vor Offizieren erklärt, eher auf eine militärische Laufbahn zu verzichten, als auf seine französische Verlobte. Das wurde sicherlich seinen Vorgesetzten hinterbracht. Nach Kriegsende schrieb Heinz zwei Erklärungen für das
Strafversetzt Potsdam 1942 (vorn 3.v.r)

Komitee VII in Hamburg zur 'Entnazifizierung': "Im April 1942 wurde ich von meinem Kompanie-Chef, Hans Giessler zur Ersatz-Abteilung Potsdam strafversetzt", zuvor hatte man ihm am 6. März bereits den Rang des Sonderführers entzogen: "weil ich mich mit einer Französin verlobt hatte. Auf die Liste der Offiziersbewerber wurde ich nicht gesetzt, da ich als 'politisch unzuverlässig'`galt." Zurück in Lille wurde er im Sommer 1944 nach Charleroi zum zweiten mal strafversetzt, wegen: "zu frankophiler Einstellung". Lange hielt die Maßregelung nicht, denn bereits am 1. August 1944 wurde er zum Feldwebel befördert - der höchste Rang den er im Krieg erreichte - und außerdem wieder 'Sonderführer' seiner  Propagandakompanie in Lille.
 

Monsieur Hernri und seine Kontakte.....


Seine Ablehnung des NS-Systems war einigen Kameraden
Lille 1944 - Fernande, Heinz - Peltier mit Brille
und auch manchen, der für ihn arbeitenden Franzosen bekannt. Einen von Ihnen, Marcel Peltier, hatte Heinz bereits 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin auf der Pressetribüne kennengelernt. Sie trafen sich im Herbst 1941 in Lille wieder. Wein lockert bekanntlich die Zunge und so kamen sich bei einigen Flaschen Roten Heinz und seine französischen Mitarbeiter näher. Der Deutsche nahm dabei wohl kein Blatt vor den Mund, was seine politische Einstellung betraf. Im April 1946 bezeugten jedenfalls Gaston Joffrin, nach dem Krieg Sportredakteur der kommunistischen Zeitung 'Liberté' und Marcel Peltier,  Panzerkommandant der französischern Armee nach der Befreiung, Heinz antifaschistische Einstellung. Joffrin schrieb (siehe Faximile), er habe ihm Ende Mai 1944 bei dessen Flucht vor der Gestapo aus Lille geholfen. Laut Peltier habe Heinz ihm Sondergenehmigungen für Nutzung der Firmenwagen erteilt, wohlwissend, dass damit nicht nur Schwarzmarktware sondern auch Waffen und anderes Material für die Resistance transportiert worden seien. Außerdem habe er Peltier durch seinen Einsatz geholfen, nach dessen Verhaftung durch die Gestapo aus dem Gefängnis zu kommen.       

 Dokument:    

Lille 22. April 1946

ARAC Lille Stempel – Association Republicains des Anciens Combattants (1917 gegründete linke Veteranen – u. a. von Henri Barbusse)



Übersetzung der Briefe Joffrins und Peltiers, an den britischen Presseoffizier Captain H.A. Hetherington in Hamburg:
 
Ich, Joffrin Marius Gaston, geboren am 13. März 1889 in Treyes (Aube), Kriegsinvalide 1914-1918, bestätige, dass Herr Henri Ressing, der meine kommunistische Einstellung kannte, mir im Mai 1944 ermöglichte, Lille mit dem Auto zu verlassen, zu einer Zeit, als meine Anwesenheit dort für mich gefährlich wurde. Ich bin Sportjournalist für die Zeitung 'Liberté'. 
 
Marcel Peltier, 22. April 1946: 
Ich wurde von den Deutschen verhaftet und durch Herrn Ressing aus dem Gefängnis geholt. Ich kann sagen, dass Monsieur Ressing mich in allen Fällen immer unterstützt hat. Durch ihn erhielt ich einen Passierschein für die Nacht, den ich für spezielle Missionen verwendet habe, sowie eine Fahrerlaubnis für Autos, die Waffen transportierten.
 

Heinz sieht das zerstörte Hamburg

 

Heinz bekam in Frankreich mehrfach Heimaturlaub, dabei  besuchte er seine Schwester Käthe, die in Straßburg wohnte. In den 90er Jahren erzählte sie, wie sie mit ihren beiden Töchtern in einer großen Wohnung gelebt habe, ihr Mann sei in Russland an der Front gewesen. Er spät habe Käthe  erfahren, dass ihre Wohnung zuvor einer jüdischen Familie gehört hatte. Sie waren in ein Vernichtungslager deportiert worden - Käthe schämte sich deshalb noch als alte Frau. Heinz Mutter Frieda lebte damals in Hamburg und er bekam im Sommer 1943 Sonderurlaub, nach den schweren Bombenangriffen auf die Stadt. Er habe auf dem Dach eines Hauses in der Innenstadt gestadnen und das Inferno gesehen - erzählte Heinz später. Seine Mutter hatte überlebt und war zur Tochter nach Straßburg gezogen.
 
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, brach die Fronte zusammen und die Allierten befreiten Frankreich schnell. Im September muss sich auch die Propagandakompanie hastig ins nordwestliche Holland zurückziehen. Heinz musste sich schnell von Fernande verabschieden, hatte wohl überlegt unterzutauchen, aber es war zu gefährlich. Dabei entkamen er und seine Truppe
Heinz (Sonnenbrille), Apeldoorn 1945
nur um Haaresbreite den blutigen Kämpfen um Nimwegen und Arnheim, nach der Landung alliierter Fallschirmjäger (17. bis 27.September 1944). Heinz kam Mitte September erneut zur Ersatzkompanie nach Potsdam, wahrscheinlich als Ausbilder neuer Soldaten für die Propagandakompanien. Danach durfte er kurz seine Mutter in Erfurt besuchen - und erlebte die Ardennen-Offensive nur aus der Ferne. Im Februar 1945 wurde er mit seiner Einheit nach niederländisch Friesland bei Groningen verlegt. Die Zivilbevölkerung litt dort bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1954 entsetzlich. Viele Zivilisten verhungerten - und das nicht nur wegen des allgemeinen Mangels - die Deutschen wollten sie dafür bestrafen, dass sie die Alliierten 1944 bejubelt hatten. Heinz war als Chefredakteur für die Soldatenzeitung "Die Pranke" zuständig, in der Durchhalteparolen Soldaten die Stimmung heben sollten. Laut Soldbuch erhielt er am 1. April 1945 in Apeldoorn seine letzte Soldzahlung in 'Feindesland' - 61 Reichsmark. Zwei Wochen später wurde Apeldoorn befreit. 
 
Ausgabe 1. April 1945

 

 
'Feldwebel' Ressing (rechts)
Bei seinem Einsatz in kam es dazu, dass Heinz das erste und einzige mal im Krieg geschossen hat. Seine Einheit kampierte, verteilt auf mehrere Bauernhöfen, man besuchte sich Abends zu feuchtfröhlichen Gelagen. In einer Nacht lief er nach einem dieser 'Spätschoppemn' zurück mti seinem Fahrer zum Quartier, als sie im Dunkeln Soldaten wahrnahmen - Freund oder Feind? Die Front war nur wenige Kilometer entfernt, sie sprangen in den Straßengraben, Heinz zog seine Pistole und schoss in die Luft. Sein Fahrer lief los, um Verstärkung zu holen, als er mit einem Trupp zurückkam, stellte sich heraus, ihr 'Gegner' waren junge Rekruten, die eine Nachtübung abhielten. Das erste und einzige mal nutzte Heinz seinen Rang als Feldewebel und 'schiss' den sie kommandierenden Unteroffizier zusammen. 
 
Nachdem die britischen Truppen den Rhein bei Wesel überschritten hatt, zog sich seine Einheit fluchtartig über das Emsland und Oldenburg bis nach Mecklenburg zurück. Von dort wurde Heinz Anfang Mai 1945 nach Hamburg beordert.
 
Den Kontakt zu Fernande hatte er seit September 1944 verloren. Sie blieb mit ihrer Mutter in Lille, laut französischem Meldegregister waren beide 1946 wieder in Saint Benin gemeldet. Vielleicht ersparte ihr der Ortswechsel die Demütigungen, die viele Französinnen nach der Befreiung erleiden mussten, die mit deutschen Besatzungsoldaten liiert gewesen waren. Oft wurden diese öffentlich zur Schau gestellt, ihre Haare umringt von gehässig lachenden Zuschauern mit stumpfen Scheren abgeschnitten. Es kam auch zu Vergewaltigungen, manche wurden ermordet - die Rache wurde oft von denen ausgeübt, die zuvor kolaboriert hatten.     




Donnerstag, 12. Mai 2022

Meine deutsch-französische Familiengeschichte Teil X

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

Das Massaker von Kowno


Es geschah Anfang der 1980er Jahre - Heinz besuchte mich und meine Freundin in Norderstedt. Wir saßen am Abend im Wohnzimmer zusammen, da sagte er, er müsse uns etwas erzählen. Kürzlich habe ihn ein Beamter der Frankfurter Kriminalpolizei an seinem Wohnort in Großsachsen zu seiner Kriegszeit vernommen. Heinz hatte oft 'launige Geschichten' darüber erzählt und war stolz, nur ein einziges mal geschossen zu haben - und das auch noch versehentlich auf die eigenen Leute - ohne zu treffen. An diesem Abend erzählte er uns erstmals von seinen Erlebnissen beim Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941. 

 
Heinz Ilmensee Sommer 1941
 
Seine Division gehörte zur 16. Armee, die als Teil der Heeresgruppe am 22.Juni 1941 über das Baltikum bis nach Leningrad vorstoßen sollte. Heinz kam mit der Propaganda-kompanie PK 501 drei Tage nach ihrer Eroberung in die Litauische Hauptstadt Kowno – von den Deutschen Kauen genannt - dem heutigen Kaunas.
 
 
 
 
 
 
Im Jahr 1986 nahm Heinz an einer Podiumsdiskussion in Frankfurt, mit Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges teil. Er saß dort gemeinsam mit einem damaligen Widerstandskämpfer und einem ehemaligen Führer der Hitler-Jugend. Sie wurden danach gefragt, wass man damals von der Judenvernichtung gewusst habe. Heinz antwortete, man habe nur gehört, dass die Juden in den Osten „ausgesiedelt“ würden. Die KZs wären von der NS-Propaganda als Umerziehungslager bezeichnet worden. Er fügte hinzu, viele Deutsche hätten damals wohl auch nicht mehr darüber wissen wollen. Eine Kollektivschuld lehnte er ab, betonte aber: „das ich mich für bestimmte Dinge schämen muß.“ Was er damit meinte, sagte er an diesem Abend in Frankfurt nicht.

 

Wofür er sich schämte? Heinz verfasste 1942 für den NS-
1941 Frontzeitung Ilmensee

Verlag F.Willmy eine Broschüre unter dem Titel: „Jungarmisten der Weltrevolution – Der Verrat des Bolschewismus an der Jugend“. In dieser NS-Propagandaschrift steht auch eine Passage zur Einnahme Kownos: 

Auf der Freiheitsstraße in Kauen...

Es war am Morgen des 25. Juni 1941. Auf der von litauischen Selbstschutzmännern bereits wieder umbenannten Freiheitsstraße schob und drängte sich eine große Volksmenge Ein klarer, wolkenloser Sommerhimmel lachte über der Stadt Kauen, die nun seit wenigen Stunden dem Terror entronnen war, die wieder aufatmete nach einjähriger Unterdrückung.

Abends zuvor hatten deutsche Voraustruppen die Memel überquert, hatte der Sender einen Aufruf gebracht und verkündet, dass Litauens Hauptstadt wieder frei sei. Die Trümmer der gesprengten großen Brücken hatten den Vormarsch nur kaum verzögern können. In wenigen Nachtstunden war von Pionieren in unvergleichlicher Präzisionsarbeit eine Potonbrücke geschlagen worden.

Über sie marschierte nun die Infanterie in die Stadt ein. Verdreckt,  verschwitzt, übermüdet von der schweren Marschleistung, aber straff und diszipliniert bogen die ersten Kolonnen in die Freiheitsstraße ein. Ein Spalier grüßender Hände empfing sie. Junge Mädchen in hellen Kleidern steckten den Soldaten der jungen deutschen Wehrmacht Blumen an. Frauen brachten Wasser, Tee und andere Getränke, Männer verteilten Zigaretten. Immer wieder wollte man die Hände der Befreier drücken. Ein jubelnder Freiheitsrausch empfing die Soldaten. (...) Alle öffentlichen Gebäude, Druckereien standen unter Schutz(..).

War es auch ein Zufall, so erschien es doch als Symbol: während die deutschen Soldaten auf der einen Seite der breiten Allee marschierten, rückte auf der entgegengesetzten Seite eine staubgelbe Kolonne müde und zerschlagen heran. (...) Da sah man Kirgisen, Kalmücken, die Soldaten des ganzen UdSSR-Völkersammelsuriums. Da zogen die geschlagenen Soldaten der Weltrevolution(...). Und ihnen gegenüber marschierten die jungen deutschen Soldaten, durchdrungen von ihrer Mission, ein für alle Mal die Bedrohung an der Ostgrenze ihres Reiches zu beseitigen. (...) auf Befehl ihres Herzens und im Verantwortungsbewusstsein ihres europäischen Gemeinschaftsgefühles. 

Hier endet die Schilderung – Heinz hat nach dem Krieg betont, es seien ohne sein Wissen zwei Kapitel hinzugefügt und der Text 'verschärft' worden. Ob er damit auch diesen Abschnitt meinte weiß ich nicht.

Der Augenzeuge.... 


Kowno Quelle Bundesarchiv - Wehrmachtssoldaten schauen zu.. (*)
 
Was er aber in Kowno erlebte, darüber schwieg er bis in die 1980er Jahre: Er wurde damals Zeuge, wie in aller Öffentlichkeit Juden; Männer wie Frauen; von litauischen Nationalisten erschlagen wurden. Die Stadt hatte damals etwa 30 000 jüdische Einwohner, unter den Zuschauern der Mordaktion befanden sich viele Wehrmachtssoldaten. Keiner von ihnen griff ein, manche machten sogar Fotos vom Geschehen. (*) Heinz erzählte uns, er sei umgehend mit seinem Kübelwagen zum Hauptquartier der Division gefahren und habe den Vorfall bei dem für den Nachrichtendienst zuständigen Stabsoffizier (IC) gemeldet. Nach einigen Minuten sei dieser zurückgekommen und habe ihm befohlen, umgehend zu seiner Einheit zurückzukehren und Stillschweigen zu bewahren: „Das ist Sache der Einsatzgruppen“ habe er nur gesagt.

Hinter den vorrückenden Kampftruppen folgten Einheiten der SS, die sogenannten Einsatzgruppen. Ihre Aufgabe bestand darin, umgehend nach der Eroberung Juden und Anhänger des Sowjetregimes zu ermorden. Für die Heeresgruppe der 16. Armee war die Einsatzgruppe A zuständig, zu der das SD-Einsatzkommando 3 (Sicherheitsdienst der SS) unter SS-Standartenführer Karl Jäger gehörte. Er wurde später SD-Kommandeur für Gesamt-Litauen und schrieb in seinem Bericht: „Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, vom EK 3 erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr(...).

 

Dabei überließ man Anfangs das Morden Freiwilligen der „Litauischen Aktivistenfront“. Diese Exilanten waren mit der Wehrmacht aus Deutschland nach Litauen zurückgekehrt. (**) Es waren glühende Antisemiten, die auf Rache und Mord auswaren. Sie wollten eine deutschfreundliche Regierung einsetzten, ihre Einheit dienten sich als Hilfspolizisten an und stellten größtenteils die Täter, die Heinz im Zentrum Kownos gesehen hatte. Insgesamt wurden zwischen Juni und Juli 1941 in der Stadt etwa 10 000 jüdische Einwohner ermordet - viele in einer ehemaligen Festung der Stadt. Ende der 1980er Jahre ermittelte die Kriminalpolizei gegen den einstigen SS Rottenführer Helmut Rauca, der das Sonderkommando in Kowno befehligt hatte. In diesem Zusammenhang wurde Heinz von der Kriminalpolizei aus Frankfurt vernommen. Zu einem Prozess gegen Rauca kam es nie, denn er verstarb Mitte  der 80er Jahre. 

 

Heinz besuchte am Abend des 24. Juni 1941 in Kowno eine Kneipe, hier saßen deutsche Soldaten und einheimische Hilfstruppen und feierten den 'Sieg'. Einer von ihnen setzte sich zu Heinz an den Tisch, sie kamen ins Gespräch und der Mann erzählte, er habe sich am Tag zuvor  eine Jüdin aus einem Gefangenenlager geholt. Sie habe sich gewehrt und ihn in den Arm gebissen, bevor er sie erschoss. Heinz blickte auf den Arm und erkannte die rote Linie einer Blutvergiftung. Er überlegte, ob er den Mörder warnen sollte, oder nicht - habe es ihm dann doch gesagt, erzählte Heinz uns Anfang der 1980er Jahre bei seinem Besuch in Norderstedt. Meine Anfrage bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt über Unterlagen des Verhöres Jahre später verliefen erfolglos.

 

Heinz kam am 10. Mai 1942 laut Soldbuch zu einer Ersatzabteilung nach Potsdam und wurde dort Unteroffizier. Er kehrte nach Lille in Frankreich zurück und unterstand dem Militärbefehlshaber für Belgien und die nordfranzösische Provinz, Pas de Calais.  
 

Schweigen nach 1945

 

Ende der 1980er Jahre begann die Debatte über die Vernichtung der Juden und Kriegsverbrechern. Sie wurde Angestoßen durch die Ausstrahlung der US-TV-Serie "Holocaust" in der ARD. Im Jahr 1995 demontierte die bundesweit gezeigte Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht" die verlogene Legende, sie habe einen 'sauberen Krieg' geführt und sei am Holocaust nicht beteiligt gewesen. Einstige Wehrmachtssoldaten, wie der NDR-Journalist und Sozialdemokrat Rüdiger Proske polemisierten gegen die Ausstellung. Immer mehr Zeugnisse kamen aber an die Öffentlichkeit - gerade von Zeitzeugen. Ihr jahrzehntelanges Schweigen nach 1945 hatte das Selbstverständnis der Menschen in der Bundesrepublik - auch in der DDR - als 'Verführte' geprägt, die von nichts gewusst hätten. Zu denen die nach dem Krieg weiter geschwiegen hatten, gehörte auch Heinz.
 
Hamburg 1946: Heinz rechts, Giordano Mitte
Beim Stöbern in der alten Fotokiste meines Vaters fand ich Jahre später eine Aufnahme von 1946 aus Hamburg. Da saßen in der 'guten Stube' meiner Großmutter in der Magdalenenstrasse ein Gruppe junger Männer, darunter auch der dem Holocaust entkommene Ralph Giordano. Heinz leitete damals als Zeitungsredakteur einen Gesprächskreis junger Menschen, dazu gehörten der spätere Regierungssprecher Conrad Ahlers und Christian Kracht, der beim Axel-Springer-Verlag Karriere machen sollte. Mit dabei die Journalistin Heilwig von der Mehden - später bekannt als Autorin der 'Brigitte'. Ich schickte Giordano 1998 eine Kopie des Fotos, daraus entspann sich ein Briefwechsel bis 2013. Er schrieb mir, er habe Heinz noch in guter Erinnerung, dieser sei damals "so etwas wie der Fixstern (...), um den die jüngeren (...) kreisten". Im September 2013 fragte ich Giordano, ob Heinz in diesem Kreis etwas von seinen Erlebnissen in Kowno erzählt habe. Die Antwort Giordanos: Weder Heinz, noch die anderen hätten damals von ihren Kriegserlebnissen gesprochen. "Die Lüge vom 'Sauberen Waffenrock' der Wehrmacht jedenfalls war noch allmächtig (...) das Übliche - Verdrängung. Eben das, was ich die 'zweite Schuld' genannt habe, den 'Großen Frieden mit den Tätern', Geburtsfehler der Bundesrepublik." Vor allem sein NS-Propagandatext über Kowno habe ihn erschüttert "zumal später dann durch ihn selbst ans Tageslicht kam, daß er Augenzeuge von Massentötungen in Kaunas wurde." Giordanos Urteil über meinen Vater  - eine bittere Wahrheit: "Heinz Ressing war nach allem, was ich durch Sie jetzt zu wissen bekam, ein funktionierendes Rädchen im Dienste Hitlers."  
 

 

Sonntag, 8. Mai 2022

Meine deutsch-französische Familiengeschichte Teil IX

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

'Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen'

 
1939
Heinz war kein Heldentyp und schon gar nicht zum Soldaten geboren. Er war sensibel, schwach, gefülig und liebte die Frauen und den Alkohol. Ein Kämpfer war er ebensowenig, wie eine 'arische Lichtgestalt' - obwohl er blond, groß, mit seinen grauen Augen ideal für die Propaganda hätte posieren können. Er hatte nach 1933 gelernt, sich anzupassen und zu arrangieren, Konflikten ging er lieber aus dem Weg, betäubte Stress und Ängste mit Alkohol.
 
1940 Kaserne Hamburg Bahrenfeld
Anfang 1939 wurde der 26-Jährige zu einer 13-wöchigen Wehrübung eingezogen. Da es in der Weimarer Republik keine Wehrpflicht gegeben hatte, war er nicht militärisch ausgebildet. Hitler hatte den Wehrdienst im Reich erst 1935 wieder eingeführt. Heinz bekam seine militärische Kurzausbildung in Jüterbog beim Nachrichtenbataillon des Infanterieregiments 271. Seine Einheit war erst im September 1939 aufgestellt worden und war Teil der 93.Infanteriedivision. Der Journalist wurde als Funker ausgebildet, konnte danach aber wieder an seinen Schreibtisch in der Redaktion des Hamburger Anzeigers zurückkehren.

 

Etwa einen Monat nach Kriegsbeginn, am 23. September 1939 wurde er im Rang eines Schützen zur Wehrmacht eingezogen. Im Soldbuch mit der Nummer 69, blickt auf dem Foto ein magerer junger Mann mit hoher Stirn, zurückgekämmten Haaren und weichem Mund. Mit angedeutetem Lächeln wirkt er eher müde und nachdenklich. Bald stellte sich heruas, das Heinz nicht fronttauglich war, die bereits während seiner Jugend aufgetretenen Magenbeschwerden hatten sich zu Geschwüren entwickelt. Laut Soldbuch lag er deshalb am 18.Oktober 1939 für mehrere Wochen in verschiedenen Lazaretten. Körperlich und seelisch angeschlagen, war er massiv abgemagert und schrieb einen Brief an seine Schwester Käthe. Die 25-Jährige war, nach Ende ihres
Arbeitsdienst - Käthe war dabei
Arbeitsdienstes Leiterin beim Roten Kreuz und ihr war klar, dass sie sofort handeln musste. Sie zog ihre Dienstkleidung an und fuhr in das Reservelazarett nach Hamburg, in dem Heinz lag. Der Anblick ihres Bruders schockierte sie, der 1,83 Meter große Mann wog gerade noch 50 Kilo. Er erzählte seiner Schwester, er bekomme Bratkartoffeln und Kohl zu essen, was er nicht bei sich behalten könne. Heinz weinte und klagte über sein eiskaltes Krankenzimmer. Käthe sagte dem anwesenden Wehrmachtspfleger, sie würde das Krankenzimmer nicht verlassen, bevor der zuständige Arzt bei ihr erscheine. Er kam und Käthe forderte ihn auf, ihren Bruder umgehend in ein ziviles Hamburger Krankenhaus zu verlegen. Dabei dürfte ihr Position beim Roten Kreuz Wirkung gezeigt haben – jedenfalls kam Heinz ins Krankenhaus nach Hamburg-Barmbek. Die Geschwüre waren aber so fortgeschritten, dass ihm dort der halbe Magen entfernt werden musste.

 

Nach der Magenoperation 1940 
Nach längerem Aufenthalt im Krankenhaus kam Heinz im Frühjahr 1940 in die Propagandakompanie 501 beim Nachrichtenregiment der 16.Armee von Generaloberst Ernst Busch. Heinz wurde nach Trier beordert, man brauchte dort einen Zeitungsredakteur am „Westwall“ für die dort stationierten Einheiten. Während dieser Zeit produzierte er Frontzeitungen für die 16. Armee. Die Propagandaeinheiten der Wehrmacht waren 1938 eingeführt worden, sie unterstanden direkt dem jeweiligen Armeeoberkommando. Bis Ende 1942 waren in der Wehrmacht rund 15.000 Soldaten für die Propagandaeinheiten tätig - immerhin also in Divisionsstärke. Sie unterstanden zwar der jeweiligen Armeeführung, die inhaltlichen Anweisungen erhielten sie jedoch direkt von Goebbels Propagandaministerium aus Berlin. In den PK der Wehrmacht und der Waffen-SS arbeiteten viele Journalisten, die nach 1945 in der Bundesrepublik ihre publizistische Karriere ungehindert fortsetzten können: Karl Holzamer (ZDF-Intendant), Ernst von Khuon (ARD-Wissenschaftsjournalist), Heinz Maegerlein (ArD-Quizzmaster) Henri Nannen (STERN-Chef), Herbert Reinecker (ZDF „Der Kommissar“ und „Derrick“), Jürgen Roland (NDR „Stahlnetz“ und „Großstadtrevier“), Ernst Rowohlt (Verleger), Peter von Zahn (ARD-Journalist, Windrose). 
 

Mit der Propaganda-Kompanie nach Frankreich

 
Westwall bei Trier - Heinz rechts
Heinz wurde wegen seiner guten Französischkenntnisse am „Westwall“ eingesetzt. Dort saßen sich Deutsche und Franzosen in Bunkern und Schützengräben im sogenannten „Sitzkrieg“ gegenüber, von den Franzosen „drole de guerre“ genannt, und ließen sich weitgehend in Ruhe. Geschossen wurde kaum, man 'bombardierte' sich höchstens mit Lautsprecherparolen und Flugblättern. Ende Februar 1940 wurde Heinz zum 'Sonderführer' ernannt, dieser Rang wurde Soldaten verliehen, die keine umfassende militärische Ausbildung
hatten, deren Spezialkenntnisse aber gebraucht wurden. Viele Soldaten den Propagandaeinheiten hatten einen solchen Status, etwa Lothar Günther Buchheim (Das Boot) und Hans Fallada. Diese Stellung beinhaltete aber keine militärische Befehlsgewalt außerhalb ihrer Einheit und die Position konnte jederzeit widerrufen werden. Die einfachen Soldaten nannte die Sonderführer deshalb auch „Schmalspur-Offiziere“.
 
 
Compiegne1940 - Deutsche 'Sieger' 
Nach dem Angriff der Wehrmacht am 10. Mai 1940 und dem unerwartet schnellen Sieg nach nur sechs Wochen, kam Heinz mit seiner Propagandakompanie im Sommer 1940 in die nordfranzösische Stadt Lille. Dort beschlagnahmten sie die Druckerei des 'Echo du Nord' und begannen Soldatenzeitungen und Informationen der Militärverwaltung für das besetzte Nordfrankreich und Belgien zu drucken. Damit folgte man der 'Tradition' des Ersten Weltkrieges, denn zwischen 1914 und 1918 waren hier bereits Propagandazeitungen für die deutschen Soldaten und die Zivilbevölkerung produziert worden. 
 
Heinz 1940 beim 'Echo du Nord' Lille
Im Gegensatz zu den im Feld mobil arbeitenden  Propagandakompanien, deren Druckereien und Redaktionen aus Lastwagen und in Zelten arbeiteten, hatte man es jetzt bequem. Heinz unterstand eine besetzte Druckerei in Lille, die 'neuen Herren' führten ein bequemes und angenehmes Leben. Ihm wurde es sogar erlaubt, das von allen deutschen Soldaten heiss begehrte Paris zu besuchen
Paris: Heinz vorne links in Uniform
. Ein etwas unscharfes Foto vom Sommer 1940 zeigt ihn in Uniform mit einem Kameraden in einem Pariser Straßencafé am Boulevard St. Michel. 
 
Heinz links
Heinz hatte als Sonderführer das besondere Privileg, in Zivilkleidung arbeiten zu dürfen, er musste also außerhalb seiner Dienststelle keine Uniform tragen. Dies und sein gutes Französisch wir den Kontakt mit den Franzosen erleichtert haben - besonders den mit Französinnen. Viele von ihnen, aber auch die Männer, bewunderten die 'strahlenden Sieger' - was ihnen blühte, war 1940 noch nicht klar. So hatte Heinz, nach Aussagen seiner Schwester, in Lille bereits früh eine französische 'Affaire'. 
 
Mit der Legalität nahmen es die 'Sieger' damals nicht so genau, praktisch wurde Frankreich nach dem Waffenstillstand und der Besetzung ausgeplündert. Soldaten schickte Pakete mit Konsumgütern, die in Deutschland schon lange vom Markt verschwunden waren und bezahlten sie mit faktisch wertlosem Wehrmachtsgeld. Darüber dachten Heinz und seinen Kameraden nicht nach, sie ließen es sich gut gehen, eines Tages bemerkte er, dass ein französischer Nachbar häufiger in seinem Keller verschwand, um nach einiger Zeit angeheitert zurückzukehren. Heinz und Kameraden durchsuchten den Keller und fanden hinter einer frisch gemauerten Wand einen versteckten Weinkeller. Den Rest kann man sich denken - und der Franzose wagte es nicht, die Plünderer anzuzeigen. Heinz überspannte mit seinem Alkoholgenuss aber den Bogen und fuhr eines Tages den Wagen eines Offiziers im Vollrausch an einen Laternenmast. Er wurde bestraft, der Rang des Sonderführers aberkannt. Allerdings wurde er im Sommer 1940 zum Gefreiten und ein Jahr später sogar Unteroffizier befördert - den Rang des Sonderführers erhielt er zurück.

 

1942/43 Frankreich Heinz Zivil 2. von rechts
In seiner Druckerei in Lille arbeiteten neben den
Wehrmachtsangehörigen viele französische Hilfskräfte. Hier wurde außer den Blättern für die Soldaten eine Zeitung für die französische Bevölkerung produziert. Wegen seiner guten Sprachkenntnisse gelang es Heinz schnell, Kontakt zu den französischen Mitarbeitern zu bekommen - er liess dabei durchblicken, kein 'gefolgstreuer' Nazi zu sein. Das sollte ihm nach 1945 noch bei der Entnazifizierung helfen. Auf jeden Fall 'fraternisierte' Heinz in Lille bereits 1940 mit der weiblichen Bevölkerung und sie mit ihm. Der junge Deutsche war sympatisch, sprach ihre Sprache und fiel so in seiner Zivilkleidung in der Öffentlichkeit nicht auf. Nach Kriegsende sagte Heinz, sein PK-Staffelführer der PK habe 1943 in Lille festgehalten: "Er hat das Recht, Uniform zu tragen, aber er macht wenig Gebrauch davon."

Frankreich 1942/43 Heinz rechts in Zivil