Montag, 22. November 2021

Meine Deutsch-Französische Familie Teil I

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

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Wie alles begann....

 

Heinrich und Frieda Ressing

 

 

Am Morgen des 7. April 1913 blieb die aktuelle Ausgabe der Lokalzeitung „Gronauer Nachrichten“ auf dem Frühstückstisch der Familie Ressing unbeachtet liegen. Heinrich Ressing war viel zu aufgeregt – er wurde zum ersten mal Vater. So entging ihm, dass am Tag zuvor im Reichstag in Berlin über die „Heeresvorlage“ heftig debattiert worden war. Dabei ging es immerhin um die Mittel für eine massive Aufstockung des stehenden Heeres auf insgesamt 660 000 Soldaten. Es ging um die größte Verstärkung der Landstreitkräfte seit Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871. Aber die meisten Deutschen machten sich im Frühjahr 1913 keine Sorgen, denn ein Krieg erschien kaum vorstellbar. Immerhin hatten sich doch in den letzten Jahrzehnten die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen der Staaten Europas positiv entwickelt. Daran würde auch das aktuelle Säbelgerassel der Militärs und Nationalisten nicht viel ändern – glaubten viele Zeitgenossen. Dabei hatten auch in Europa mit dem neuen Jahrhundert die Konflikte an den Peripherien zugenommen.  Die Zeitungen brachten Berichte über die Greuel der Balkankriege, in denen Serben, Bulgaren und Griechen um die Reste des Osmanischen Reichs in Europa kämpften. Aber an diesem Tag war das für Heinrich Ressing genauso wenig von Interesse, wie die Meldung, dass sich in seiner Heimatstadt Gronau die Fußballabteilungen des TV Gronau und des FC Gronau zusammengeschlossen hatten. Er wartete nervös im Wohnzimmer des Hauses in der Schiefestrasse, denn seine Ehefrau Frieda lag in den Wehen – gerade war die Hebamme angekommen.

Es war ein grauer und trockener Montag, der Frühling
lag noch in weiter Ferne, das Thermometer zeigte gerade einmal 10 Grad.  Der 27-jährige werdende Vater ging heute nicht in sein Büro bei der städtischen Sparkasse. Als preußischer Beamter und leitender Angestellter konnte er sich das leisten. Das Kreditinstitut lag in der Poststrasse, nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Jetzt wartete der werdende Vater voller Unruhe im Wohnzimmer auf die Niederkunft seiner Frau Frieda. Sie wurde mit ihren 30 Jahren eine für die damalige Zeit späte Mutter. 

Heinrich Ressing – die Schreibweise des Familiennamens hatte sich im Lauf der Jahre von Rehsing, über Reßsing zu Ressing geändert - hatte es weit gebracht. Jetzt gehörte er zum gutsituierten Bürgertum der aufstrebenden Kleinstadt Gronau. Im Jahr 1910 war er Leiter der Rechnungsabteilung (Rendant) der Stadtsparkasse geworden. Während er an diesem trüben Montagmorgen auf die Geburt seines ersten Kindes wartete, hatte er Zeit auf das Erreichte zurückzublicken. Geboren im Jahr 1886, war er als drittes Kind das jüngste seiner Eltern, Gerhard Ressing und Katharina, geborene Esselborn. Einige Geschwister waren bereits im Kindesalter gestorben, für diese Zeit nicht unüblich. Die Familie hatte den eigenen Bauernhof bei Solingen bewirtschaftet und dabei vom wirtschaftlichen Aufstieg der Industriealisierung und der Gründerjahre profitiert. Nach 1871 hatten sich die Region und seine Sozialstruktur von einer Landwirtschaftlichen zu einer Industriellen gewandelt. 

Kreissparkasse (nach 1933)

Die damalige Kleinstadt Gronau mit rund 10 000 Einwohnern lag im Nordwesten des Kaiserreichs, nur wenige Kilometer von der niederländischen Grenze und der benachbarten Stadt Enschede entfernt. Der Name des Ortes wurde bereits im Mittelalter 1356 urkundlich festgehalten, er leitet sich von ‚Grüne Aue’ ab. Zu Beginn des 20.Jahrhunderte war rund die Hälfte der Einwohner evangelisch, die andere katholisch, dazu kam noch eine kleine jüdische Gemeinde. So richtig Aufwärts ging es erst spät, das Stadtrecht hatte Gronau gerade um die Jahrhundertwende erhalten. Auch hier hatte die Region vom Boom der Gründerzeit nach 1871 profitiert. 


Zu Beginn des neuen Jahrhunderts war Gronau bekannt für seine Textilindustrie, das schnelle Wachstum brachte aber auch Probleme mit sich. Die Stadt platzte aus allen Nähten, es gab nicht genug Wohnraum, vor allem die Arbeiter lebten in unhygienischen und überbelegten Quartieren. In der Folge kam es im Sommer 1913 zu einer Typhusepidemie, an der Arbeiter und ihre Kinder erkrankten. Auslöser war mit Fäkalien verschmutztes Trinkwasser, da es damals keine zentrale Wasserversorgung gab. Gronau war auch Arbeitsplatz für Pendler aus den benachbarten Niederlanden, seine Fabriken boten sichere Arbeitsplätze und guten Lohn. Immerhin gingen die Produkte aus Gronau auch in alle Welt. Größter Unternehmer der Stadt waren die Spinnereien von Gerrit van Delden, der seinen ersten Betrieb dort bereits 1854 gegründet hatte. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges war sein Unternehmen der größte Arbeitgeber Gronaus, van Delden betrieb damals die größte Fabrik für Feinspinnerei auf dem europäischen Festland –  Industriegeschichte die 1981 mit dem Konkurs enden sollte.


 

Gronau war 1913 nicht nur Industriestandort, hier trafen sich Eisenbahnlinien, die das westliche Westfalen mit dem Reich verbanden. Der wirtschaftliche Wandel von Landwirtschaft zur Industrie ließ auch die Bedeutung der Sparkasse in Gronau wachsen. Für den jungen und karrierebewussten Heinrich Ressing also gute Voraussetzungen. 

Er war ein ungewöhnlicher Mann, obwohl preußischer Beamter, pflegte er seine Leidenschaft für Kunst und Malerei. Seine Eltern hatten seine kulturellen Interessen immer gefördert, ein Bruder wurde später Kunstmaler. So durfte der jüngste der Familie Ressing später in Düsseldorf sogar Zeichenkurse besuchen. Heinrich war ein fröhlicher Charakter, galt als ‚Bruder Leichtfuß’ der eine Leidenschaft für Frauen hatte – so charakterisierte ihn jedenfalls später seine Tochter Käthe. 

Frieda Terp - spätere Ressing


Er lernte seine spätere Frau Frieda Terp im Bahnhof von Münster kennen. Heinrich saß im  Wartesaal der 2.Klasse und wartete auf seinen Zug. Dabei fiel ihm die elegant gekleidete Frieda Terp auf, vor allem die eindrucksvolle Erscheinung dieser Frau weckte sein Interesse. Der junge Mann sprach sie an und muss die vier Jahre ältere Frau mit seinem Charme und seiner Selbstsicherheit beeindruckt haben.

Die 1882 in Erfurt geborene Frieda Franziska Karoline Terp war für ihre Zeit eine selbstständige Frau. Sie hatten den Beruf der ‚Putzmacherin’ erlernt und besaß in Burgsteinfurt ein eigenes Hutgeschäft. Ihre Eltern, Karl (geboren 1846) und Friederike (geboren 1851) hatten dafür gesorgt, dass die Tochter einen Beruf erlernen konnte – damals alles andere als selbstverständlich. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass Friedas Vater, Karl Terp, obwohl Oberschaffner der Reichsbahn, für seine Schwiegereltern als nicht standesgemäß galt. Immerhin war Friedas Mutter, Friederike, Tochter einer wohlhabenden Familie von Goldschmieden aus Worms. Aber die Liebe zwischen Friederike und Karl war so stark, dass sie nach Erfurt durchgebrannt waren und dort geheiratet hatten. Ob sie und ihr Mann sich mit ihren Eltern versöhnt hat...?

Johanna und Friederike

 

Die Familie Terp hatte zwölf Kinder, Frieda erzählte später, sie habe ihre Mutter fast immer nur schwanger erlebt. Viele der Kinder überlebten die ersten Lebensjahre nicht, Tochter Johanna war wegen einer Hirnhautentzündung geistig behindert. In den 1930er Jahren lebte sie in Hamburg in den 'Alsterdorfer Anstalten'. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erhielt die Familie die Nachricht, Hanna sei „plötzlich an Lungenentzündung“ verstorben. In Wirklichkeit war sie Opfer der Euthanasiemorde des NS-Staates geworden, den Ärzte und das Pflegepersonal durchführten. Behinderte galten als 'Lebensunwert', sie verhungerten und bei Kriegsbeginn gab es die ersten ‚Vergasungsaktionen’. Diese waren der 'Testlauf' für das, was später in den Vernichtungslagern im großen Stil praktiziert werden sollte.

 

In der Ehe zwischen dem lebenslustigen Heinrich und der verklemmt und strenggläubigen Protestantin Frieda trafen zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander. Ihre Tochter Käthe meinte später, er habe wohl auch um Frieda geworben, weil sie als Besitzerin eines Hutgeschäftes eine „gute Partie“ gewesen sei. Nach der Heirat verkaufte Frieda ihr Geschäft in Burgsteinfurt und zog mit ihrem Mann nach Gronau. Das Eheleben dürfte beiden allerdings bald klar gemacht haben, wie unterschiedlich sie waren – aber erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Trennung. 


Karl-Heinz 1913

 

Im April 1913 war die Welt der Familie von Heinrich und Frieda Ressing jedenfalls noch in Ordnung. Als die Hebamme zum Vater kam und ihm mitteilte, er habe einen gesunden Sohn, war Heinrich jedenfalls überglücklich. Der Stammhalter wurde, was damals niemand ahnen konnte, in das letzte Friedensjahr geboren. Den Namen Karl-Heinrich Gerhard Ressing bekam der Junge nach den beiden Großvätern. Außerdem war der Name Karl 1913 in Deutschland der beliebteste Jungenname – so hieß auch sein Patenonkel Karl. Ihn hat der Junge aber nie kennenlernen können, denn er fiel 1915 vor Verdun.

 

Kopie der Geburtsurkunde von 1934

 



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