Montag, 29. November 2021

Meine Deutsch-Französische Familie Teil II

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.



 

Das Dorf an der ‚Selle’

Wappen von Saint Benin

 


Am 16. Juni 1914 war Henri Paul Gaspard zufrieden, gerade hatten er mit Frau Marie, der 14-Jährigen Tochter Flore (meine spätere Großmutter) und dem 13-Jährigen Sohn Henri das eigene Haus im Dorf  Saint Benin bezogen. Mit den zwei Zimmern sowie einer Küche und kleinem Keller samt Vorratsraum war das, aus rötlichem Backstein gebaute Haus zwar klein - aber es gehörte ihnen.
Sie lebten seit 1906 im Dorf, in der Grande Rue No 1 und waren damals aus dem nahegelegenen Le Catau, Rue de L'Emaillerie, nach Saint Benin übersiedelt. Henri Paul hatte dort als Facharbeiter in einer großen Fabrik für Badenwannen und emaillierte Produkte gearbeitet. Zwar war er jetzt jeden Tag einige Kilometer zur Arbeit nach Le Cateau unterwegs, aber nun hatte die Familie ein eigenes Haus mit großem Garten, in dem man selber Gemüse und Obst anbauen konnte. 

Saint Benin heute

Das Dorf hatte 1914 etwa 800 Einwohner, benannt war es nach dem Heiligen Sankt Benignus von Dijon, der im 2.Jahrhundert in Burgund für das Christentum warb und als Märtyrer endete.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Dorf 1030, Bischof Gerard übergab später den Weiler an die Abtei von Saint André in der nahegelegenen Stadt Le Cateau. Das Dorf liegt an einem Hang in 142 Metern Höhe, oberhalb des Flüsschens Selle. Drei große Mühlen nutzten damals die Wasserkraft für ihren Betrieb. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen zu den Bauern von St.Benin viele Arbeiter, die ihr Geld in den aufstrebenden Fabriken von Le Cateau verdienten. Deshalb ist Saint Benin heute noch geprägt von größeren Bauernhöfen, umgeben von hohen Mauern. Mit der Industriealisierung wurden aber um die Jahrhundertwende hier, wie in vielen Dörfern der Region, Häuser für Arbeiter und Angestellte der Unternehmen gebaut.

Paul Henri Gaspard kam am 28. August 1874 in der Stadt
Guise (Departement Aisne) zur Welt. Der kleine Mann (1,59 Meter) galt als cholerisch, so beschrieben ihn jedenfalls später seine Tochter und die Enkelin - meine Mutter. Vor allem wenn er betrunken war, hatten sie Angst vor ihm – und er trank viel. Er war als 20-Jähriger im September 1898 zum Militärdienst beim 120. Schützenregiment eingezogen worden und kam mit seiner Truppe in die damalige französische Kolonie Tunesien. Laut Militärunterlagen aus dem Archiv des Departements in Laon wurde er im September 1897 in eine Strafkompanie versetzt, dort blieb er ein Jahr. Trotzdem war es ihm möglich, beim Militär seinen Führerschein zu machen und Paul Henri erhielt später sogar eine Verdienst-Medaille der Kolonialtruppen. 


Nach Ende der Militärzeit kehrte er nach Frankreich zurück. Was ihn dann nach Le Cateau verschlug, ist unklar, wahrscheinlich fand er hier Arbeit. In seiner Militärakte steht als Beruf „Emailleur“, also Facharbeiter. In Le Cateau gab es
Flore 1900
die Emaille-Fabrik Dupont, die Badeinrichtungen herstellte. Seit 1868 wurde in der Keramik-Fabrik von Felix Simon - einem Sohn Saint Benins - Kacheln und Bodenplatten hergestellt. Heute noch liegen auf den Fussböden vieler alter Häuser im Ort alte Steinkacheln. Paul Henri kam Anfang 1899 mit seiner Frau Marie (1881, geborene Hanappe) nach Le Cateau, dort bekam sie am 7. Februar 1900 eine Tochter, meine spätere Großmutter Flore Fernande, ihr folgte ein Jahr später der Bruder Henri.   

 

 

Die Landschaft in der Region verläuft in flachen großen Wellen Richtung Nordsee. Hier liegt der französische Teil Flanderns, unweit entfernt der Grenze zu Belgien bei Mons. Aus diesem Grund gibt es für Le Cateau auch einen niederländischen Namen: Kamerijkskasteel. 

Die hügelige Region wird bei Le Cateau vom Tal der Selle durchschnitten, an seinem Hang steht das Dorf Saint Benin. Die Region um Le Cateau wurde durch die Industriealisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch zum Verkehrsknotenpunkt. Ein großes Eisenbahnviadukt überspannt das Tal der Selle seit 1854. Die Strecke verbindet Paris mit Brüssel und Antwerpen in Belgien - und führt bis nach Deutschland. Außerdem treffen bei Le Cateau wichtige Nationalstrassen zusammen, die Cambrai und das Meer mit Charleville-Mezières und Süd-Belgien verbinden.

Die Winter sind hier rau, Regen, Schnee und eisiger Wind kommen vom rund 100 Kilometer entfernten Kanal und der Nordsee. Das hat auch die Menschen hier geprägt, einfache Leute, deren Gesichter von der harten Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken geprägt sind. Im Winter eine ungemütlich neblig- graue Landschaft, die Melancholie aufkommen lässt. Wird es aber Frühling und Sommer, hat man einen weiten Blick über die grüne Landschaft, vor allem Felder und Wiesen, auf denen das Vieh grast. 

Flandern war zwischen den Mächtigen begehrt und umstritten und wurde immer wieder zum Schlachtfeld. Schon die Römer und Attilas Hunnen zogen hier vorbei, die Französischen und Habsburger Herrscher wollten es erobern und in Le Cateau wurde am 3. April 1559 Geschichte geschrieben. Damals schlossen sie hier den Frieden von Cateau-Cambresis - Spanien bekam Burgund und Neapel zugesprochen. Nicht weit von Le Cateau liegt Rocroi – dort besiegte 1643 der französische Thronfolger (Dauphin) die bisher als unbesiegbar geltenden Soldaten der spanischen ‚Tercios’. Damit bekräftigte er Frankreichs Rolle als europäische Großmacht. Auch in der Neuzeit wurde die Region durch Kriege zwischen Deutschland und Frankreich verheert, das 1854 erbaute Eisenbahnviadukt wurde dreimal zerstört: 1870/71, 1914/18 und 1939/45.  

Berühmtester Sohn Le Cateaus ist der Maler Henri Matisse, der hier 1869 zur Welt kam. Stolz ist man auch auf Édouard Adolphe Mortier, einst Marschall Napoleons I. im Jahr 1806 Kommandant meiner Heimatstadt Hamburg. Sein Denkmal steht auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus von Le Cateau - ein kleines Museum erinnert an Matisse.

 

Aber die Vergangenheit interessiert im Sommer 1914 Paul und seine Familie wenig. Endlich war der harte Winter vorbei, das Geld für den Kauf des Hauses musste verdient werden und um die Familie zu versorgen. Seine Frau Marie hatte genug mit der Hausarbeit und den Kindern zu tun. Das Häuschen in der Rue Faidherbe war in der Zeit der Regentschaft Napoleons III. (1852-1871) gebaut worden. Im Gegensatz zu den davor und danach errichteten Häusern, stand es mit der Schmalseite zur Rue Faidherbe. Man wollte nur wenige Fenster zur Straße, weil damals die Steuern nach deren Anzahl berechnet wurden - also ein Steuerspar-Modell. Das kleine Haus bot einen eher kargen ‚Komfort’, gegenüber im Garten befand sich neben dem Kaninchenstall das Plumpsklo. Immerhin hatte die Küche ein Waschbecken aus Steingut samt Wasserleitung. Geheizt wurde mit kleinen Kohleöfen, das Heizmaterial kam aus den nahen Revieren Nordfrankreichs. Wichtig war der große Garten mit seinen Obstbäumen und Beeten, in denen Gemüse und Kräuter angebaut wurden. Heute noch eine Spezialität der Region ist der geräucherte Knoblauch, die großen bräunlichen Zöpfe kann man auf den Wochenmärkten kaufen. Wochentags gingen die Kinder Flore und Henri, deren Schulzeit beendet war, zur Arbeit. Am Dorfrand, direkt neben der Eisenbahnlinie befand sich der Friedhof, auf dem später die gesamte Familie – bis auf meine Mutter – im Familiengrab ihre letzte Ruhe finden sollten.  

Als die Familie Gaspard am 16. Juni 1914, einem Dienstag, ihr neues Haus bezog, ahnte niemand, das knapp zwei Wochen später, am 28. Juni, das Attentat auf den Österreich-Ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo blutige Folgen für Le Cateau und Saint Benin haben sollte. Mitte Juni 1914 schien die Welt noch in Ordnung und so nahm man hier kaum großen Anteil an der aktuellen Debatte im Parlament. Dort hatte gerade der frisch gewählte Ministerpräsident, René Viviani die ein Jahr zuvor verabschiedete Verlängerung der Wehrdienstzeit auf drei Jahre verteidigt. Damit sollte die Anzahl aktiver Soldaten in Friedenszeiten gesteigert werde. Die Folge war, dass im deutschen Kaiserreich eine Aufstockung des Friedensheeres beschlossen wurde. Trotz des Säbel-Gerassels - dass man kurz vor einem Krieg stand, damit rechnete kaum jemand - schon gar nicht in Saint Benin.....  

 



Der alte Obstbaum im Garten in den 1980ern

Montag, 22. November 2021

Meine Deutsch-Französische Familie Teil I

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.



Wie alles begann....

 

Heinrich und Frieda Ressing

 

 

Am Morgen des 7. April 1913 blieb die aktuelle Ausgabe der Lokalzeitung „Gronauer Nachrichten“ auf dem Frühstückstisch der Familie Ressing unbeachtet liegen. Heinrich Ressing war viel zu aufgeregt – er wurde zum ersten mal Vater. So entging ihm, dass am Tag zuvor im Reichstag in Berlin über die „Heeresvorlage“ heftig debattiert worden war. Dabei ging es immerhin um die Mittel für eine massive Aufstockung des stehenden Heeres auf insgesamt 660 000 Soldaten. Es ging um die größte Verstärkung der Landstreitkräfte seit Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871. Aber die meisten Deutschen machten sich im Frühjahr 1913 keine Sorgen, denn ein Krieg erschien kaum vorstellbar. Immerhin hatten sich doch in den letzten Jahrzehnten die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen der Staaten Europas positiv entwickelt. Daran würde auch das aktuelle Säbelgerassel der Militärs und Nationalisten nicht viel ändern – glaubten viele Zeitgenossen. Dabei hatten auch in Europa mit dem neuen Jahrhundert die Konflikte an den Peripherien zugenommen.  Die Zeitungen brachten Berichte über die Greuel der Balkankriege, in denen Serben, Bulgaren und Griechen um die Reste des Osmanischen Reichs in Europa kämpften. Aber an diesem Tag war das für Heinrich Ressing genauso wenig von Interesse, wie die Meldung, dass sich in seiner Heimatstadt Gronau die Fußballabteilungen des TV Gronau und des FC Gronau zusammengeschlossen hatten. Er wartete nervös im Wohnzimmer des Hauses in der Schiefestrasse, denn seine Ehefrau Frieda lag in den Wehen – gerade war die Hebamme angekommen.

Es war ein grauer und trockener Montag, der Frühling
lag noch in weiter Ferne, das Thermometer zeigte gerade einmal 10 Grad.  Der 27-jährige werdende Vater ging heute nicht in sein Büro bei der städtischen Sparkasse. Als preußischer Beamter und leitender Angestellter konnte er sich das leisten. Das Kreditinstitut lag in der Poststrasse, nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Jetzt wartete der werdende Vater voller Unruhe im Wohnzimmer auf die Niederkunft seiner Frau Frieda. Sie wurde mit ihren 30 Jahren eine für die damalige Zeit späte Mutter. 

Heinrich Ressing – die Schreibweise des Familiennamens hatte sich im Lauf der Jahre von Rehsing, über Reßsing zu Ressing geändert - hatte es weit gebracht. Jetzt gehörte er zum gutsituierten Bürgertum der aufstrebenden Kleinstadt Gronau. Im Jahr 1910 war er Leiter der Rechnungsabteilung (Rendant) der Stadtsparkasse geworden. Während er an diesem trüben Montagmorgen auf die Geburt seines ersten Kindes wartete, hatte er Zeit auf das Erreichte zurückzublicken. Geboren im Jahr 1886, war er als drittes Kind das jüngste seiner Eltern, Gerhard Ressing und Katharina, geborene Esselborn. Einige Geschwister waren bereits im Kindesalter gestorben, für diese Zeit nicht unüblich. Die Familie hatte den eigenen Bauernhof bei Solingen bewirtschaftet und dabei vom wirtschaftlichen Aufstieg der Industriealisierung und der Gründerjahre profitiert. Nach 1871 hatten sich die Region und seine Sozialstruktur von einer Landwirtschaftlichen zu einer Industriellen gewandelt. 

Kreissparkasse (nach 1933)

Die damalige Kleinstadt Gronau mit rund 10 000 Einwohnern lag im Nordwesten des Kaiserreichs, nur wenige Kilometer von der niederländischen Grenze und der benachbarten Stadt Enschede entfernt. Der Name des Ortes wurde bereits im Mittelalter 1356 urkundlich festgehalten, er leitet sich von ‚Grüne Aue’ ab. Zu Beginn des 20.Jahrhunderte war rund die Hälfte der Einwohner evangelisch, die andere katholisch, dazu kam noch eine kleine jüdische Gemeinde. So richtig Aufwärts ging es erst spät, das Stadtrecht hatte Gronau gerade um die Jahrhundertwende erhalten. Auch hier hatte die Region vom Boom der Gründerzeit nach 1871 profitiert. 


Zu Beginn des neuen Jahrhunderts war Gronau bekannt für seine Textilindustrie, das schnelle Wachstum brachte aber auch Probleme mit sich. Die Stadt platzte aus allen Nähten, es gab nicht genug Wohnraum, vor allem die Arbeiter lebten in unhygienischen und überbelegten Quartieren. In der Folge kam es im Sommer 1913 zu einer Typhusepidemie, an der Arbeiter und ihre Kinder erkrankten. Auslöser war mit Fäkalien verschmutztes Trinkwasser, da es damals keine zentrale Wasserversorgung gab. Gronau war auch Arbeitsplatz für Pendler aus den benachbarten Niederlanden, seine Fabriken boten sichere Arbeitsplätze und guten Lohn. Immerhin gingen die Produkte aus Gronau auch in alle Welt. Größter Unternehmer der Stadt waren die Spinnereien von Gerrit van Delden, der seinen ersten Betrieb dort bereits 1854 gegründet hatte. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges war sein Unternehmen der größte Arbeitgeber Gronaus, van Delden betrieb damals die größte Fabrik für Feinspinnerei auf dem europäischen Festland –  Industriegeschichte die 1981 mit dem Konkurs enden sollte.


 

Gronau war 1913 nicht nur Industriestandort, hier trafen sich Eisenbahnlinien, die das westliche Westfalen mit dem Reich verbanden. Der wirtschaftliche Wandel von Landwirtschaft zur Industrie ließ auch die Bedeutung der Sparkasse in Gronau wachsen. Für den jungen und karrierebewussten Heinrich Ressing also gute Voraussetzungen. 

Er war ein ungewöhnlicher Mann, obwohl preußischer Beamter, pflegte er seine Leidenschaft für Kunst und Malerei. Seine Eltern hatten seine kulturellen Interessen immer gefördert, ein Bruder wurde später Kunstmaler. So durfte der jüngste der Familie Ressing später in Düsseldorf sogar Zeichenkurse besuchen. Heinrich war ein fröhlicher Charakter, galt als ‚Bruder Leichtfuß’ der eine Leidenschaft für Frauen hatte – so charakterisierte ihn jedenfalls später seine Tochter Käthe. 

Frieda Terp - spätere Ressing


Er lernte seine spätere Frau Frieda Terp im Bahnhof von Münster kennen. Heinrich saß im  Wartesaal der 2.Klasse und wartete auf seinen Zug. Dabei fiel ihm die elegant gekleidete Frieda Terp auf, vor allem die eindrucksvolle Erscheinung dieser Frau weckte sein Interesse. Der junge Mann sprach sie an und muss die vier Jahre ältere Frau mit seinem Charme und seiner Selbstsicherheit beeindruckt haben.

Die 1882 in Erfurt geborene Frieda Franziska Karoline Terp war für ihre Zeit eine selbstständige Frau. Sie hatten den Beruf der ‚Putzmacherin’ erlernt und besaß in Burgsteinfurt ein eigenes Hutgeschäft. Ihre Eltern, Karl (geboren 1846) und Friederike (geboren 1851) hatten dafür gesorgt, dass die Tochter einen Beruf erlernen konnte – damals alles andere als selbstverständlich. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass Friedas Vater, Karl Terp, obwohl Oberschaffner der Reichsbahn, für seine Schwiegereltern als nicht standesgemäß galt. Immerhin war Friedas Mutter, Friederike, Tochter einer wohlhabenden Familie von Goldschmieden aus Worms. Aber die Liebe zwischen Friederike und Karl war so stark, dass sie nach Erfurt durchgebrannt waren und dort geheiratet hatten. Ob sie und ihr Mann sich mit ihren Eltern versöhnt hat...?

Johanna und Friederike

 

Die Familie Terp hatte zwölf Kinder, Frieda erzählte später, sie habe ihre Mutter fast immer nur schwanger erlebt. Viele der Kinder überlebten die ersten Lebensjahre nicht, Tochter Johanna war wegen einer Hirnhautentzündung geistig behindert. In den 1930er Jahren lebte sie in Hamburg in den 'Alsterdorfer Anstalten'. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erhielt die Familie die Nachricht, Hanna sei „plötzlich an Lungenentzündung“ verstorben. In Wirklichkeit war sie Opfer der Euthanasiemorde des NS-Staates geworden, den Ärzte und das Pflegepersonal durchführten. Behinderte galten als 'Lebensunwert', sie verhungerten und bei Kriegsbeginn gab es die ersten ‚Vergasungsaktionen’. Diese waren der 'Testlauf' für das, was später in den Vernichtungslagern im großen Stil praktiziert werden sollte.

 

In der Ehe zwischen dem lebenslustigen Heinrich und der verklemmt und strenggläubigen Protestantin Frieda trafen zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander. Ihre Tochter Käthe meinte später, er habe wohl auch um Frieda geworben, weil sie als Besitzerin eines Hutgeschäftes eine „gute Partie“ gewesen sei. Nach der Heirat verkaufte Frieda ihr Geschäft in Burgsteinfurt und zog mit ihrem Mann nach Gronau. Das Eheleben dürfte beiden allerdings bald klar gemacht haben, wie unterschiedlich sie waren – aber erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Trennung. 


Karl-Heinz 1913

 

Im April 1913 war die Welt der Familie von Heinrich und Frieda Ressing jedenfalls noch in Ordnung. Als die Hebamme zum Vater kam und ihm mitteilte, er habe einen gesunden Sohn, war Heinrich jedenfalls überglücklich. Der Stammhalter wurde, was damals niemand ahnen konnte, in das letzte Friedensjahr geboren. Den Namen Karl-Heinrich Gerhard Ressing bekam der Junge nach den beiden Großvätern. Außerdem war der Name Karl 1913 in Deutschland der beliebteste Jungenname – so hieß auch sein Patenonkel Karl. Ihn hat der Junge aber nie kennenlernen können, denn er fiel 1915 vor Verdun.

 

Kopie der Geburtsurkunde von 1934

 



Montag, 1. November 2021

Nürnberg: 1946 - 2021

2021

Ein ganz normaler Saal in einem ganz normalen Gerichtsgebäude in Deutschland. Raum Nummer 600 - Justizpalast Nürnberg. Seine Geschichte macht den Unterschied aus. Hier fanden 1946, vor 75 Jahren, die Prozesse gegen die Hauptangeklagten des NS-Regimes vor den Richtern aus Großbritannien, Frankreich, den USA und der Sowjetunion statt. Es hatte nach der Kapitulation des NS-Reiches am 8. Mai 1945 durchaus Meinungen bei den Alliierten gegeben, die gefassten NS-Täter einfach hinzurichten. Aber die Verbrechen waren so ungeheuerlich, dass man entschied, die NS-Größen vor ein internationales Gericht zu stellen.  


1946

Auch heute noch wird im Saal 600 Recht gesprochen, etwa 2011, als gegen einen Neonazi verhandelt wurde, der in der U-Bahn einen vermeintlichen Linken so schwer verletzt hatte, das dieser bleibende Schäden zurückbehielt. Während der Verhandlung kam es im Saal zu Auseinandersetzungen und der Richter musste den Prozess räumlich verlegen. 'Der Schoss ist fruchtbar, aus dem das kroch' warnte einst Bertold Brecht....

Neben dem Prozess 1946 gegen die NS-Elite, fanden hier bis 1949 weitere zwölf internationale Verhandlungen gegen weitere Verantwortliche statt. Darunter waren Ärzte, Juristen, Militärs, Wirtschaftsmagnaten, Mitglieder von SS und Polizei. 

 

 

Das für die Prozesse genutzte Gerichtsgebäude war Teil des umfangreichen Nürnberger Justizpalastes, wenige Kilometer von der Innenstadt entfernt. Da hier die alliierten Bombenangriffe nicht so große Schäden angerichtet hatten und sich außerdem direkt hinter dem Gericht ein Gefängnis befand, wählten die Alliierten diesenStandort. Sie befürchteten Befreiungsversuche und Anschläge von Hitler-Anhängern und so wurde das Gelände militärisch hermetisch abgeriegelt. Den Prozess durften nur Pressevertreter und besondere Gäste vor Ort verfolgen. Der Saal wurde damals für den Prozess umgebaut, nach Gründung der Bundesrepublik hat man ihn dann erneut umgestaltet. 

Die 50 Bände umfassenden Prozessakten wurden nach dem Prozess veröffentlcht, aber von der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet. Bei einem Besuch des Amerikahauses in Hamburg, es befand sich an der Moorweide, fand ich sie bei einem Besuch, Anfang der 1970er Jahre, sie erstreckten sich im Lesesaal über eine große Regalwand.

Auf den ersten Blick ist der Gerichtssaal ein typisches Symbol des deutschen Obrigkeitsstaates der Kaiserzeit. Verglichen mit den Film- und Fotoaufnahmen von 1946 wirkte er aber auf mich wesentlich kleiner. Über den mächtigen Eingangsportalen aus dunklem Holz mit den Symbolen der Macht und des Rechts, steht hinter dem Richetrtisch heute ein massives Kreuz - wir sind ja in Bayern. Der Audioguide informiert, das sich links hinter der Bank für die Angeklagten eine Tür zu einem Aufzug befindet. Über ihn wurden 1946 die angeklagten NS-Größen zum unterirdischen Gang gebracht, der in das Gefängnis führte.

Die Gedenkstätte wurde im Jahr 2010 eröffnet. Erst im Jahr 2000 war es für Besucher überhaupt möglich, den Saal im Rahmen einer Führung zu besichtigen. Immerhin ist er ein Symbol für das internationale Recht, denn erstmals wurden hier Verantwortliche für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen und vrn einem internationalen Tribunal verhandelt. Einen ähnliche Prozess gab es nach der Kapitulation Japans gegen die Kriegsverbrecher in Tokio - der Kaiser (Tenno) blieb verschont. Mit dem sich 1946 bereits anbahnenden 'Kalten Krieg' zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, kamen viele Verantwortliche des

NS-Staates und ihre Profiteure in den Folgeprozessen glimpflich davon. Abgesehen von den im ersten Prozess zum Tode Verurteilten wurden viele Täter zwar zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, aber nach Gründung der Bundesrepublik entlassen. Die Deutschen wollten vergessen, wie sie am NS-System und seinen Verbrechen mitgewirkt und profitiert hatten, sie sahen sich angesichts der Zerstörungen nur als Opfer und 'hatten von nichts gewusst'. Erst 1963 sollte der Frankfurter Prozess gegen die Verantwortlichen des Vernichtungslagers Auschwitz vor allem vielen jüngeren Deutschen die Augen öffnen. Danach fragten die Heranwachsenden ihre Eltern: 'Und was hast Du damals gemacht?' 


Nürnberg - Symbolort des NS-Staates


Katalog 1984

Die Alliierten hatten nicht ohne Grund Nürnberg für das internationale Tribunal gegen die NS-Täter gewählt. Neben seiner Rolle als Produktionsstandort der Kriegswirtschaft, war die Stadt ein Symbol für das 'Dritte Reich' - für die Nazis wie für die Alliierten. Hier hatte die NSDAP bereits 1927 und 1929 Reichsparteitage veranstaltet, nach 1933 wurde außerhalb des Zentrums ein monströses Aufmarschgelände in kurzer Zeit gebaut, an den Parteitagen nahmen bis zu eine halbe Million Menschen teil. Meine Mutter mokierte sich darüber: "Ja ja und heute ist keiner dabei gewesen". 

Nürnberg hatte für den NS-Staat hohen Symbolwert, fanden hier doch im Mittelalter die Reichstage statt, die Reichsinsignien wurden hier aufbewahrt. Im Jahr 1935 wurden auf dem Reichparteitag die sogenanten 'Nürnberger Gesetze' verkündet, die Ehen und Verbindugnen zwischen Juden und 'arischen' Deutschen untersagten und unter schwere Strafe stellten. Diese 'Rassegesetze' waren ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Aussonderung der JUden in Deutschland und damit zum späteren Holocaust. In Nürnberg hatte Hermann Göring diese Terrorgesetze verkündet - zehn Jahre später fand er sich im Saal 600 auf der Bank als Angeklagter wieder. 

...hier saßen die Täter....

Touristen kommen gerne...auch zum NS-Parteitagsgelände

 
Zwar war die Stadt bereits seit 1940 Ziel alliierter Bomber gewesen, die größten Zerstörungen richtete aber der Angriff am 2.Januar 1945 an. Binnen weniger Minuten wurde die gesamte Altstadt in Trümmer gelegt. Heute geben nur einige Gebäude noch einen Eindruck davon, wie Nürnberg vor 1945 ausgesehen hat. Sie wurden, wie etwa das Rathaus oder das Dürer-Haus nach dem Krieg wieder aufgebaut - für mich wirkten sie bei meinem Besuch wie Kulissen einer untergegangen Zeit. Sonst beherrschen die City in den Fußgängerzonen, wie in allen Städten, die klotzigen Konsumpaläste. 
Den Touristen scheint es jedenfalls zu gefallen, denn Bayerns zweitgrößte Stadt ist bei ihnen beliebt und sie strömen auch Sonntags durch die City. Viele haben auch das einstige Reichsparteitags-Gelände als besonderen 'thrill' auf der 'to do list'. Daher bieten die Stadtrundfahrten per Bus diese 'Sehenswürdigkeit' auf ihren Fahrzeugen als eines ihrer highlights an. 
 
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Nürnberg vor 35 Jahren. Damals standen wir auch vor dem berühmten 'Schönen Brunnen' am Markt und hörten die Geschichte von den 'Wunsch-Ringen' am Gitter. Es heißt: Wer sich ein Kind wünscht und am Ring dreht, dem geht das in Erfüllung. Mittlerweile werden die Ringe für jeden Wunsch genutzt - ob mit Erfolg ist fraglich. Erstmals taucht die Geschichte der Wunschringe jedenfalls im 17. Jahrhundert auf. Die heute am Gitter hängenden Exemplare wurden aber immer wieder - zu letzt im 20. Jahrhundert - erneuert.  
 
 
Auch das NS-Parteitagsgelände besuchte ich Mitte der 1980er Jahre, so die Tribüne am sogenannten 'Zeppelinfeld'. Jeder kennt die Bilder aus den NS- Propagandafilmen Leni Riefenstahls. Wie Hitler langsam die Stufen zum Rednerpodest heruntergeht, unter ihm die folgsamen Massen in Reih und Glied. Diesen Weg selber zu gehen war schon unheimlich - aber ich musste auch an den wunderbaren Film von Charlie Chaplin "Der große Diktator" denken. In einer Szene persifliert er das hohle Pathos der Hitlerschen Selbstinszenierung treffend. Ich erinnerte mich auch an das berühmte Foto und die Filmaufnahme von der Sprengung des riesigen Hakenkreuzes auf der Tribüne am 22.April 1945 - zwei Wochen vor der deutschen Kapitulation. 
Damals kaufte ich eine Broschüre, die sich kritisch mit dem Konzept Albert Speers für das NS-Gelände beschäftigte. Er hatte es von Anfang an auf schnellen Verfall angelegt, damit sollte Hitlers Deutschland dem tausendjährigen antiken Rom und Athen nahestehen - aber im Schnellverfahren. 
Erst 2001 wurde ein Dokumentationszentrum auf dem Gelände eröffnet, immerhin war das NS-Gelände bereits in den 1980er Jahren eine 'Pilgerstätte' für Neo-Nazis geworden. Nürnberg war damals auch wegen der berüchtigten 'Wehrsportgruppe Hoffmann' bekannt, die unweit in einem alten Schloss ihre Übungen abhielt. Im Jahr 1980 verübte ein Anhänger das Bombenattentat an der Münchner Oktoberfestwiese, das zwölf Menschen das Leben kostete - und bis heute nicht aufgeklärt wurde. Bezeichnend auch, dass Enver Şimşek am 9.September 2000 in Nürnberg das erste Opfer der NSU-Neonazis wurde. Nicht einmal ein Jahr später, am 13. Juni 2001 ermordeten sie dort Abdurrahim Özüdoğru und am 9.Juni 2005  İsmail Yaşar. Ob und welche Helfer die NSU-Mörder in Nürnberg hatten, ist bis heute ungeklärt.  
 
 

Brunnen und Plätze  

 
Ein besonderes faible hat man in Nürnberg anscheinend für 'schräge' Brunnen, etwa das 'Ehekarussell' am 'Weißen Turm'. Durch die Innenstadt fließt der Fluss Pegnitz, hier kann man einen Eindruck vom mittelalterlichen Nürnberg erhalten. Am Marktplatz findet sich die älteste Buchhandlung Deutschlands von 1531 - allerdings mit aktuellem Sortiment.





 
Wer das Museum zum Nürnberger Prozess sucht, muss mit der U-Bahn (Linie 1 bis 'Bärenschanze') Richtung Fürth fahren.
 
Quelle: Katalog "Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg", Kunstpädadgogisches Zentrum im  Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1984 - heute noch erhältlich.