Donnerstag, 10. Juli 2025

Halberstadt 28. Juni 2025: Taufe und Erinnerungen

Alle waren zu Alma's Taufe gekommen

Was gibt es Schöneres als eine Familienfeier bei sommerlichen Temperaturen in einem kühlen Garten? Genau dazu hatten uns am Samstag den 28. Juni 2025 mein Neffe Gentil und seine Partnerin Maria nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt eingeladen. Alma Rosária, ihre vor acht Monaten in Berlin geborene Tochter, sollte an diesem Tag im Dom getauft werden.


Vor der heute evangelischen Kirche, einst als katholischer Dom zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert im französisch-gothischen Stil erbaut, trafen sich am Samstag Mittag die von überall angereiste Gäste unter der heißen Sonne. Aber der Dom bot uns mit dem kühlen Kirchenschiff im Halbdunkel Ruhe und Entspannung. Viele Freunde der Eltern waren gekommen, und die kleine Alma blickte neugierig auf dem Arm der Mutter umher. Sie lächelte dabei vergnügt mit ihren großen blauen Augen.
Der evangelische Superintendent des Kirchenkreises Halberstadt taufte Alma über dem großen Steinbecken, gefüllt mit Weihwasser aus Portugal, der Heimat von Gentils Vater José. Auch für eher kirchenferne Menschen, wie mich und meine Frau Caro, herrschte in der Kirche eine fröhliche Atmosphäre. Ein Schulfreund Gentils aus Hamburg hatte seine C-Trompete mitgebracht und spielte zweimal von der Orgel-Empore, begleitet vom Organisten des Domes. 

Rechts: Maria und Alma mit Gentil, Florence und José, Caro mit Mann
Nach der Taufe versammelten sich die Gäste im schönen Garten des alten Hauses, das heute von Marias Vater bewohnt und Schritt für Schritt renoviert wird. Unter einem großen Baum gab es an Tischen Erfrischungen, es ging zwangslos und entspannt zu. Viele Gäste lernten sich hier erstmals kennen und plauderten miteinander. es wurden keine großen Ansprachen oder Reden gehalten. Meine Schwester Florence war mit Gentils Vater José aus Hamburg angereist, wir aus Stuttgart. Damit trafen sich in Halberstadt nicht nur drei Generationen Ressings, ein lebhafter Mix verschiedener Nationalitäten. Florence und ich haben die deutsche und französische Staatsbürgerschaft - Gentil ausserdem noch die seines portugiesischen Vaters. Gelebte Vielfalt und Gelassenheit..... 

 

Hier ein Foto aus früheren Tagen: Philippe und Gentil....


 

Halberstadt mit seinen heute etwa 36 000 EinwohnerInnen bietet, mit seinem
restaurierten Platz zwischen Dom und Liebfrauenkirche, ein schön restauriertes Zentrum. Außerhalb des Stadtkerns finden sich fast komplett erhaltene Viertel mit alten Mehrfamilienhäuser und Villen, viele stammen noch aus der Vorkriegszeit. Komplettiert werden sie durch die alten Kopfsteinpflaster - im Norden Deutschlands 'Katzenköpfe' genannt. Letztlich war es der schlechten wirtschaftlichen Lage in der DDR zu verdanken, dass die Viertel heute noch existieren. Im Westen stünden hier längst die an Bunker erinnernden Beton-Villen der Wohlhabenden plus Tiefgarage für den SUV. Dazu noch eine Fußnote: Die DDR verkaufte die alten 'Katzenköpfe' der Dorfsrtassen vor 1989 für D-Mark an wohlhabende BRD-Gemeinden. Zurück blieben damals oft in den DDR-Dörfern Sandpisten.

Dom: Denkmal für die deportierten Juden Halberstadts
Vor dem Dom in Halberstadt steht ein Denkmal. dicht nebeneinander stehende Stein-Steelen. Auf ihnen sind die Namen der jüdischen BewohnerInnen Halberstadts festgehalten. Die Stadt hatte vor 1933 eine große jüdische Gemeinde, die Synagoge wurde dann 1938 Opfer der 'Reichspogromnacht' und die Ruine später abgerissen. Die Gemeinde wurde zwischen 1942/43 in NS-Vernichtungslager deportiert - die meisten nach Theresienstadt im heutigen Tschechien (Teresin). Die Deportierten mussten sich damals, vor allen Bewohnern des Ortes, auf dem Platz vor dem Dom zum Abtransport sammeln, daran erinnert  das Denkmal. Heute zeigen Neonazis und die AFD im Ort Präsenz, die rechtsradikale Partei stellt im Gemeinderat nach der CDU die zweitgrößte Fraktion. Halberstadt hat, wie viele Orte in der Region, mit Abwanderung vor allem Jüngerer und einer damit einhergehenden Überalterung zu kämpfen. Der Ort wirkte zwar 'aufgeräumt' aber auch leer. 

Wir hatten für unseren Aufenthalt ein originelles Hotel am Stadtrand gebucht, das ehemalige Sommer-Freibad von Halberstadt. Es wurde 1927 eröffnet und stellte 1997 seinen Betrieb ein, das alte Gelände wurde zugeschüttet. Erhalten blieb das große alte Empfangsgebäude, es wurde zu einem Hotel umgebaut, und in der einstigen Halle befindet sich jetzt ein Restaurant mitsamt einem kleinen Hotel.   
Um die Gäste an die einstige Bestimmung des Gebäudes zu erinnern, hat man ein paar alte Umkleidekabinen erhalten. Alte Schilder an der Decke des Restaurant mahnen: `Langsam Gehen' Eine Broschüre, die man mir schenkte,  zeigt die Geschichte des Bades. Wirklich eine nette und originelle Unterkunft - etwa zehn Minuten Fussweg vom Dom entfernt.


 


Erinnerungen....

 

Es war irgendwann im Jahr 1990, da kamen mein Studienfreund Reiner und ich auf die Idee, den Harz östlich der alten Grenze zu erkunden. Er war uns 'Wessis' ja immer verschlossen gewesen. Nur wer Verwandete hatte, konnte in die DDR einreisen, und das Grenzgebiet im Harz um den Brocken war trotzdem unerreichbar gewesen, da militärisches Sperrgebiet, auch für DDR-Bürger. Hier gab es umfangreiche Abhöranlagen der sowjetischen Armee, mit einem Fernglas konnte ich früher von der West-Grenze aus ihre Antennen auf dem Brocken sehen.
 
Nun war die DDR im November 1989 als 'Sozialistischer Arbeiter und Bauernstaat' untergegangen und wurde ab 1990 schrittweise von der Bundesrepublik 'geschluckt'. Reiner und ich, machten uns nach Abschluss unseres Soziologie-Studiums auf den Weg, um die 'Rückseite des Mondes' - sprich DDR zu erkunden. Mit Reiners etwas betagtem VW-Golf überquerten wir bei Wernigerode die einstige DDR-Grenze. Man hatte eilig über den einstigen 'Todesstreifen' mit dem Bulldozer eine Lücke geschlagen und eine kleine Betonpiste gelegt. So konnten wir über frisch asphaltierte Straße in den Ostharz fahren, vorbei am einst unüberwindlichen 'Antifaschistischen Schutzwall' mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Schon ein seltsames Gefühl.
 
Erste Überraschung: Obwohl überall die Häuser und Dörfer sehr heruntergekommen wirkten, war Wernigerode aufwändig restauriert worden. Das lag daran, dass die DDR-Regierung das Städtchen als Beispiel für 'sozialistische Denkmalpflege' gewählt hatte. Da wir beiden politisch und geschichtlich interessiert waren, fuhren wir aber nicht nur touristische Sehenswürdigkeiten an. Unser Weg führte uns auch zur Gedenkstätte 'KZ-Mittelbau Dora' bei Nordhausen in Thüringen. Hier wurden 1943 von KZ-Häftlingen tiefe Schächte für den Bau der V1 und V2 Raketen in den Fels getrieben. Von den etwa 60 000 eingesetzten Häftlingen starben dabei rund 20 000 an den Entbehrungen. 1990 wirkte die DDR Gedenkstätte auf uns, wie ein verlassener Steinbruch, nur ein paar Schilder wiesen uns den Weg. Ziemlich makaber empfanden wir, dass direkt eben der Gedenkstätte ein DDR-Hundesportclub sein Vereinsheim hatte. So hörten wir, während wir das einsame Gelände erkundeten, immer wieder lautes Gebell - das an die SS-Hunde erinnerte.
 
Wir fuhren weiter, bis wir in Bad Frankenhausen oberhalb eines Berghangs einen monumentalen Rundbau sahen - das Denkmal zur Erinnerung an den deutschen Bauernkrieg 1525, bei dem hier tausende Aufständische von den Rittern erschlagen worden waren. Zu unserer Überraschung war das einstige DDR-Museum geöffnet, und ein Wächter, der schon damals dort gearbeitet hatte, führte uns in den Rundbau. Hier hatte der DDR-Künstler Werner Tübke ein monumentales Panorama des Bauernkrieges gemalt. Das besondere war, dass man zuerst im dunklen Saal stand und dann langsam das Licht hochgefahren wurde, so dass zum Schluß das ganze Panorama erleuchtet wurde.
 
Nach dem Ende der DDR wurde lange darüber gestritten, ob das Museum als Symbol des SED-Staates geschlossen werden sollte. Zum Glück ist das nicht geschehen. 
 
Wir fuhren weiter, und auf dem Weg nach Magdeburg kamen wir auch nach Halberstadt, bekannt für seinen Dom. Über den Zustand der Stadt waren wir ziemlich erschrocken. Einst lebten hier über 40 000 Menschen, aber durch die  verheerenden Bombenangriffen der Alliierten 1945 war die Stadt zu über 80 Prozent zerstört worden. Die immerhin etwa zehn Prozent jüdische Bevölkerung war zuvor Deportiert worden und fiel dem Holocaust zum Opfer. 
 
Als Reiner und ich mit dem Auto durch Halberstadt fuhren, wirkte es, als sei der Bombenangriff erst wenige Monate zuvor gewesen. Trümmergrundstücke und in den Strassen waren immer noch große Bombentrichter, die man notdürftig mit Stahlplatten überdeckt hatte. Einige 'Plattenbauten' waren in den 1950er Jahren entstanden, und die beiden Kirchen standen noch. Insgesamt aber damals ein trauriger Abschied vom Ost-Harz.
 

2025 - Familiäre Begegnung in Braunschweig 

 

Da Caros Geburtsort Braunschweig nur knapp 60 Kilometer westlich von Halberstadt liegt, hatten wir beschlossen, uns dort mit ihrer Tante und der Familie zu treffen. Alle waren bei Kriegsende aus Schlesien in den Westen geflüchtet, auch die Familie von Caros Mutter. Dort lernten sich nach dem Krieg die Flüchtlinge Fritz und Gisela kennen, heirateten und bekamen zwei Töchter. Später zogen die Familie nach Karlsruhe. Fritz' jüngere Schwester und sein Bruder blieben in der Region um Braunschweig. Nach dem Treffen zur Taufe in Halberstadt gab es in Braunschweig für uns damit ein zweites Familientreffen in einem schönen Gartenlokal am Rand der Stadt. Wir genossen den letzten Spargel der Saison, alle waren entspannt und fröhlich, man weiss ja nicht, ob man sich so bald wiedersehen wird. 
 
Wir wohnten in einem einstigen kleinen Fabrikgebäude, unweit der Braunschweiger
Braunschweiger Löwe I
 Innenstadt. So nutzten wir die Gelegenheit, das Stadtzentrum zu erkunden. Auch hier hatten die massiven Bombenangriffe der Alliierten und der in den 1970er Jahren erfolgte Kahlschlag für Kaufhäuser und Bürogebäude das Zentrum ziemlich gesichtslos werden lassen - wie fast überall im 'Westen' der Bundesrepublik. Immerhin wurden aber einige städtebauliche Sehenswürdigkeiten gerettet und restauriert, so das Standbild des bekannten 'Braunschweiger Löwen' - Symbol des einstigen Landesfürsten.
 
Im Jahr 2001 bekam Braunschweig mit dem 'Happy Rizzi-House' des US Künstlers James Rizzi eine neue und besondere Sehenswürdigkeit. Der Häuserkomplex nahe der City fällt sofort jedem Besucher auf. Die bunten Fassaden vermitteln Fröhlichkeit und erinnerten mich etwas an die von Hundertwasser geschaffenen Gebäude und Fassaden. Die Rizzi Häuser sind jedenfalls ein lebhafter Farbklecks zwischen restaurierten Fachwerkhäusern und der etwas tristen Einkaufsmeile Braunschweigs. Dem Vernehmen nach sind aber nicht alle Bewohner damit glücklich.      

 
 
 
Braunschweiger Löwe II

Dienstag, 28. Januar 2025

Meine Deutsch-Fanzösische Familiengeschichte Teil XIII

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

 

Überleben zwischen Schwarzmarkt und Hamsterfahrt

 

Zwar hatte Heinz jetzt legale Papiere und durfte in Hamburg bleiben – aber damit entfielen auch die doppelten Lebensmittelkarten aus Hamburg und Stade. Überall blühte der Schwarzmarkt und alle versuchten auf 'Hamsterfahrten' ins Umland Lebensmittel einzutauschen. Man machte Witze um Bauern, in deren Kuhställen sich teure Teppiche stapeln würden - eingetauscht gegen Milch, Butter und Speck. Der Winter 45/46 war besonders hart in Deutschland - gerade in Hamburg. Überall mangelte es an Brennmaterial für die Öfen in den Wohnungen. Heinz Schwester Käthe erzählte: „Zäune wurden eiskalt im Dunkeln demontiert und auf Schleichwegen nach Hause geschleppt. Dort wurden sie dann im Keller zerkleinert.“ Bäume in der Nachbarschaft seien über Nacht gefällt und abtransportiert worden. „Ich stand bei Minus 30 Grad 'Schmiere'“, erinnerte sie sich. Auch Holzzäune in der Umgebung verschwanden und wärmten die Wohnungen in Pöseldorf. Heinz war allerdings als Holzdieb nicht begabt. Im 1946 erschienenen Buch 'Briefe aus der Quarantäne' beschreibt er: „Dieser Tage war auch ich als ‚Illegaler’ unterwegs. Mit einer großen Baumsäge bewaffnet, hatte ich mich mit einem Bekannten zusammen auf den Weg gemacht, um im Vorgarten einer benachbarten Hausruine einen Rotdorn zu fällen.“ Dabei seien sie von einer Bewohnerin überrascht worden und unter wüsten Beschimpfungen vertrieben worden. Heinz schwor  danach, lieber wolle er im kalten sitzen, als noch einmal als illegaler „Holzhackerbua“ ertappt zu werden.

Auch das 'Organisieren' auf dem Schwarzmarkt führte zu Problemen. Einmal war es seinem Vetter, Klaus Terp gelungen, die Hälfte eines Ochsens einzutauschen. Der gelernte Koch tranchierte das Tier, aber das frische Fleisch war nicht abgehangen und hatte verheerende Wirkung auf Magen und Verdauung der sonst Magerkost ausgesetzten Familie. Insgesamt ging es ihnen aber besser, als vielen anderen in Hamburg. Heinz gelang es Weihnachten 1945 auf einer Hamsterfahrt ins Umland eine – wenn auch magere – Gans einzutauschen. Die gab es an den Feiertagen, zusammen mit Rotkohl und Klössen. Heinz hatte am Jahresende weiteren Grund zur Freude, denn nach mehr als eineinhalbjähriger ohne Nachricht hatte er aus Frankreich erstmals einen Brief von Fernande erhalten. 
 
In der kleinen Wohnung in der Magdalenenstrasse wurde es  eng, denn neben Mutter Frieda und Schwester Käthe samt ihren beiden Töchten, war auch der Friedas Ex-Ehemann Heinrich eingezogen - obwohl er sich ja lange zuvor von seiner Familie getrennt hatte. Er steuerte etwas zum Unterhalt bei, verdiente etwas als 'Schnellzeichner" auf dem Schwarzmarkt für britische Soldaten. Wichtigste Währung damals waren Zigaretten, aber eines Tages wurde er bei einer Razzia verhaftet und in das Gefängnis der niedersächsischen Kleinstadt Celle gebracht. Heinz und Käthe versuchten, ihm Essen zukommen zu lassen. Allerdings durfte Frieda nichts davon erfahren, wegen „der Anfälligkeit ihrer Leber und Galle“, meinte Käthe später sarkastisch. Das Verhältnis Friedas zu ihrem Ex-Ehemann blieb bis zu ihrem Tod unversöhnt.

 

Journalistischer Neubeginn - "Die Welt"

 
Was er künftig machen wollte dazu hatte Heinz im alltäglichen Kampf zum Überleben wenig Zeit. In einem 1948 in der Jugendzeitung „DU“ erschienenen Portrait erzählte Heinz, nach Kriegsende mit einem Theater durch Friesland getingelt zu sein. Dafür habe er Kurz-Revuen geschrieben und auch selber auf der Bühne gestanden.
Soldbuch
Während das Jahr 1945 bitterkalt dem Ende entgegenging, wurde bekannt, dass die Briten in Hamburg eine deutsche Tageszeitung gründen wollten, die von deutschen Journalisten gemacht werden. Wie konnte man aber politisch unbelastete Mitarbeiter finden? Hatten jemand als  Journaliste zwischen 1933 und 1945 gearbeitet, wurde er von der 'Reichsschrifttumskammer' kontrolliert und musste Mitglied werden. Hierbei wurde auch die Mitgliedschaft in anderen NS-Organisation fetgehalten. Heinz erfuhr von dem Projekt und bewarb sich, im Soldbuch stand nur, dass er
Eintrag Soldbuch PK
während 1939 und 1945 Feldwebel in einer Propagandakompanie (PK)  gewesen war. Das schloss ihn für die Briten als Bewerber aber nicht automatisch aus, denn sie sahen in der PK eine 'normale' Militäreinheit. Entscheidend war vielmehr, ob jemand Mitglied der NSDAP, der SS oder anderer Parteigliederungen gewesen war. Dazu überprüften die britischen Besatzungsoffiziere die Listen der "Reichsschrifttumskammer". Anscheinend fiel die kurzzeitige Mitgliedschaft in der SA bei Heinz nicht auf - er betonte seine kommunistische Vergangenheit (siehe Stellungnahme) Dafür brachte er Zeugen bei, die seine linken Aktivitäten vor 1933 bestätigten. Das störte die Briten 1946 nicht und es gab einfach nur wenige 'unbelastete' Kandidaten - der ‚Kalte Krieg’ befand sich erst im Frühstadium....

 

Am Donnerstag den 7. Februar 1946 klopfte es an der Tür der Wohnung in der Magdalenenstrasse 22. Als Heinz öffnete, übergab ihm ein britischer Soldat einen Brief. Er sollte
sich „bitte umgehend“ bei der Druckerei Broschek an den Großen Bleichen einfinden und den britischen Presseoffizier, Captain Hector Alastair Hetherington, kontaktieren. Dieser war im Juni 1944 als Panzerkommandant an der Landung in der Normandie beteiligt gewesen und hatte nach Kriegsende eine dreimonatige Kurzausbildung bei einer britischen Zeitung absolviert. Jetzt war er in Hamburg für das Projekt Tageszeitung 'Die Welt' verantwortlich. Laut Schreiben wollte er mit Heinz: "die Möglichkeit einer Anstellung in der Schriftleitung der Zonen-Zeitung zu besprechen“. Er beschrieb später den Offizier, als jungen Mann mit hoher Stirn, der immer rot anlief. Die Briten wollten die Zeitung zuerst „Der Tag“ nennen. Später entschied man sich dann für den Namen: „Die Welt“, denn man wollte nicht mit dem deutschnationalen Blatt "Die Tat" des Hugenberg-Konzern vor 1933 in verwechselt werden. "Die Welt" war als:  "unparteiische Zeitung für die gesamte britische Zone" geplant.

Heinz wies beim Vorstellungsgespräch darauf hin, dass er während des Dritten Reiches in Hamburg als Lokal-Reporter und während des Krieges in einer Wehrmachts-Propagandakompanie als Umbruch- und Chefredakteur in Lille gearbeitet hatte. Er wird Hetherington auch von seinem kommunistischen Engagement erzählt haben und das deshalb in der NS-Zeit als 'politisch unzuverlässig' gegolten habe. Hetherington stellte Heinz am 22. Februar 1946 als Redakteur ein.
Er verdiente monatlich 650 Reichsmark Brutto. Die erste Ausgabe der Tageszeitung "Die Welt" erschien am 2. April 1946 und kostete 20 Reichs-Pfennige. Unter dem Logo stand: „Unabhängiges Organ of his Majesties Governement“ - die Redaktion unterstand direkt dem britischen Außenministerium in London.
Zwar hatten die Alliierten im Juli 1945 in Potsdam eine  Entnazifizierung der Deutschen  beschlossen, aber die Briten gingen ab 1946 hauptsächlich nur gegen NS-Eliten und höhere Funktionsträger vor. Die 'leichteren Fälle' wurden von aus deutschen Antifaschisten bestehenden Ausschüssen entschieden. Heinz musste 1947 ein solches Verfahren durchlaufen, aber bereits Anfang 1946 konnte er als Redakteur der neuen Tageszeitung arbeiten. Dort traf er auf Christian Kracht, der später im Axel Springer-Konzern eine wichtige Rolle spielte. Mit dabei war Kurt W. Marek, ebenfalls PK-Offizier. Er wurde später unter dem Pseudonym C.W. Ceram mit dem archäologischen Bestseller: „Götter, Gräber und Gelehrte“ weltberühmt. Bei der neuen Tageszeitung kamen einige Journalisten mit 'brauner Vergangenheit' unter, so etwa Jürgen Schüddekopf. Er hatte zwischen 1940 und 1945 für Goebbels Sonntagszeitung „Das Reich“ geschrieben. 
 
Als Heinz am 22. Februar 1946 seinen Dienst bei der „Welt“ antrat, war Hans Zehrer sein Chefredakteur. Dieser hatte 1920 am Kapp-Putsch teilgenommen und war später politisch ein 'Querfront' Vertreter und Gefolgsmann Kurt von Schleichers gewesen.Deiser hatte noch im Januar 1933 als letzter Reichskanzler eine autoritäre Regierung ohne Hitler angestrebt - war aber gescheitert. Das kostete Schleicher 1934 beim sogenannten `Röhm-Putsch' das Leben - Hitler ließ ihn liquidieren. Zehrer hatte bis 1933 als Chefredakteur des nationalrevolutionären Monatsblatts „Die Tat“ gearbeitet und während der NS-Herrschaft Leiter des Stalling-Verlages gewesen. Als Heinz an seinem zweiten Arbeitstag in der Redaktion der „Welt“ erschien, war Zehrer den Job bereits wieder los - wegen der rechten Vergangenheit. Sozialdemokraten und andere NS-Verfolgte hatten bei den Briten protestiert: „So schnell ging das damals“, meinte Heinz. Als Axel Springer dann 1953 "Die Welt" für zwei Millionen Mark kaufte (Auflage 1 Million) stellte er seinen Zehrer wieder als Chefredakteur ein. Er war auch an der Gründung des „Hamburger Abendblattes“ und „Bild“ beteiligt. Zehrer blieb auch nach 1945 rechts-konservativ, schrieb mit am Programm der Deutschen Rechtspartei-Deutsche Konservative Partei, die bei der Bundestagswahl 1949 mit 5 Sitzen in den Bundestag einzog.
 
Zehrers Nachfolger bei der „Welt“ wurde nach dessen Rauswurf 1946 der sozialdemokratische Widerstandskämpfer Rudolf Küstermeier, der im Konzentrationslager Bergen-Belsen inhaftiert gewesen war. Für die Briten überwachte Colonel H. B. Garland die Welt-Redaktion. Er hatte in Oxford Germanistik studiert und er wurde von Hetherington unterstützt. Kein Artikel ging in Druck, bevor die britischen Kontrolloffiziere ihn nicht überprüft und freigegeben hatten. 
 
Heinz "Die Welt" Redaktion 1946
Vor der ersten Ausgabe am 2. April 1946 diskutierte die Reaktion intensiv über die Ziele. "Die Welt" sollte Ort demokratischer Diskussion werden und deshalb sollte die Meinung der Leserinnen und Leser eine wichtige Rolle spielen. NS-Propagandaminister Goebbels hatte die Veröffentlichung von Leserzuschriften in Tageszeitungen sofort verboten. Die britische Besatzungsmacht wollte nach dem Krieg Leserinnen und Leser aktivieren, die demokratische Erziehung fördern. Dafür wurde in der Zeitung für Debatten viel Platz eingeräumt, Verantwortliche Redakteure
Redaktion 1946 - Henz (r) britischer Controller
waren Christian Kracht und Heinz.
Neben neuer Inhalte brachten die britischen Kontrolleure den deutschen Journalisten auch ihre Umbruchtechnik bei. Lange Artikel wurden auf der nächsten Seite fortgesetzt. In Deutschland war es früher üblich gewesen, längere Berichte weiter hinten im Blatt fortzusetzen. 
 
Bald wurde den Briten klar, dass das Außenministerium ihrer Majestät keinen kommerziellen Zeitungsbetrieb führen konnte. Deshalb gründete man eine Gesellschaft mit Beschränkter Haftung (britisch SE - deutsch GmbH), an der die britische Regierung über das Foreign Office Anteilseigner wurde, die restlichen Anteile hielt die Broschek-Druckerei.
Kurz nach dem Start im April 1946 bekam die „Welt“ zwei neue Kontrolloffiziere. Einer von ihnen war Peter de Mendelssohn, 1908 im ostfriesischen Jever geboren, er hatte vor der NS-Herrschaft als Journalist gearbeitet und als jüdisch Verfolgter Deutschland 1933 verlassen. Einige der deutschen Redakteure kamen mit den neuen Chefs nicht klar und wechselten zum neugegründeten „Radio Hamburg – Station of his Majesties Forces“ – dem Vorläufer des späteren Norddeutschen Rundfunk (NDR). Er hatte in der Rothenbaumchaussee das Gebäude des einstigen NS 'Reichssenders Hamburg' übernommen. Bereits kurz nach der britischen Besetzung Hamburgs, nahm am 4. Mai 1945 der neue Sender den Betrieb auf unter der Kennung: "Here is Radio Hamburg, a Station of the Allied Military Government / Hier ist Radio Hamburg, ein Sender der alliierten Militärregierung". 
 

'Entnazifizierung' 1947

 
Radio Hamburg (Heinz l)
Heinz arbeitete weiter bei der „Welt“, erhielt aber von den britischen Controllern die Erlaubnis, als Sprecher für den Radiosender zu arbeiten. Dazu musste er seine Vergangenheit im dritten Reich darlegen - die 'Entnazifizierung'. Am 10.Dezember 1947 erhielt er nach seiner Überprüfung di Bescheinigung: „Karl Ressing ist von der Britischen Nachrichtenkontrolle überprüft und registriert. Dieser Dienststelle sind keine Gründe gegen seine/ihre aktive Betätigung im Kulturleben Deutschlands bekannt“ Unterzeichnet vom britischen Kontrolloffizier. Heinz hatte dazu verschiedene Erklärungen über seine politische Vergangenheit vor und während der NS-Herrschaft verfasst und Leumundszeugen bestätigten seine Anti-Nazi Einstellung - sie kamen auch und gerade aus Frankreich. Darunter befanden sich auch Zeugnisse einstiger französischer Widerstandskämpfer, mit denen Heinz in Lille während seiner Arbeit Kontakt hatte. Seine kurzzeitige SA-Mitgliedschaft blieb anscheinend unerwähnt oder unewentlich und auch seine 1942 verfasste Propaganda-Schrift: „Jungarmisten der Weltrevolution“ wurde ihm
nicht zu Last gelegt (siehe Stellungnahme 1947 unten)  - der 'Kalte Krieg' zwischen den USA und der Sowjetunion war Realität. Außerdem waren die Briten damals im Umgang mit der 'Entnazifizierung' deutlich ‚lockerer’ als etwa die amerikanischen Besatzungsbehörden. Das er das Massaker lithauischer Nationalisten und der SS-Einsatzgruppen an Juden und vermeintlischen Kommunisten nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 vor Ort gesehen hatte, hat er vor dem Ausschuss verschwiegen.   
 
Bei der Erlaubnis, wieder als Journalist arbeiten zu dürfen, dürften Heinz die schriftlichen Leumundszeugnisse durch  französische Widerstandskämpfer gewesen sein. Einige hatten in seiner Druckerei in Lille gearbeitet und Heinz hatte von ihrer Einstellung gewusst - und in einem Fall einen Mitarbeiter vor der Verhaftung gewarnt. 

"Lille 22. April 1946

ARAC Lille Stempel – Association Republicains des Anciens Combattants (1917 gegründete linke Veteranen – u. a. von Henri Barbusse)

Ich, Joffrin Marius Gaston, geboren am 13. März 1889 in Treyes (Aube), Kriegsinvalide 1914-1918, bestätige, dass Herr Henri Ressing, der meine kommunistische Einstellung kannte, mir im Mai 1944 ermöglichte, Lille mit dem Auto zu verlassen, zu einer Zeit, als meine Anwesenheit dort für mich gefährlich wurde. Ich bin Sportjournalist für die Gemeinschaftszeitung 'Liberté'. Gerne übergebe ich dieses Zertifikat Herrn Ressing

Brief Marcel Peltier:

Ich wurde von den Deutschen verhaftet und durch Herrn Ressing aus dem Gefängnis gebracht. Ich kann sagen, dass Monsieur Ressing mich in allen Fällen immer unterstützt hat. Durch ihn erhielt ich einen Passierschein für die Nacht, den ich für spezielle Missionen verwendet habe, sowie eine Fahrerlaubnis für Autos, die Waffen transportierten.

Marcel Peltier 22. April 1946"

Heinz fügte dem eine Schilderung seines politischen "Werdegangs" nach 1933 bei. Auch seine Massregelung und Strafversetzung wegen der Verlobung mit einer Französin - Fernande - führte er an. Nichts schrieb er aber zu seiner Zeugenschaft am Massaher in Kowno.

Am 10. Dezember 1947 wurde ihm von der Britischen Kontrollkommission die Erlaubnis erteilt, wieder als Journalist arbeiten zu dürfen.

  

Erklärung vor der Kontrollkommission

Stellungnahme zur Broschüre "Jungarmisten der Weltrevolution"

 

Politischer Werdegang nach 1933





Montag, 11. September 2023

Nordfrankreich - So viel Geschichte....

Saint Benin - Tal der Selle

 

 

Das 'Departement Nord' ist Teil der Region "Hauts de France" und verläuft entlang der Grenze zur Belgien - von der Kanalküste bei Dünkirchen bis zu den Ardennen im Süden. Mit 2,6 Millionen Menschen ist das Departement bevölkerungsreicher als die Stadt Paris. Die Hauptstadt Lille ist ein Verkehrsknotenpunkt in west-östlicher- und nord-südlicher Richtung. Das Arrondissement Cambrai im Südwesten war immer wieder Schauplatz blutiger Kämpfe - seit den Römern. Besonders leiden musste die Region im Ersten Weltkrieg, nach 1918 lagen die Städte und Dörfer größtenteils in Trümmern. Heute noch zeugen die vielen Soldatenfriedhöfe von dieser Vergangenheit. Bis in die 1960er Jahre war das Départements Nord, zu dem Cambrai gehört, ein wichtiger Industriestandort. Handelswege, Kohle- und Textilindustrie prägten sie, aber dann begann - ähnlich wie im Ruhrgebiet - der Niedergang. 'Zechensterben' und das Ende der Textilfabriken, viele Arbeitsplätze gingen verloren. Die Gegend verarmte - und das gilt auch heute noch. 

Le Cateau - Rathausturm - Parc Fénelon

 

 

Namen wie Somme, Aisne oder Picardie sind heute noch symbolträchtig für den blutigen Stellungskrieg zwischen 1914-1918. Mein französischer Familienzweig stammt aus dem Kanton Le-Cateau-Cambrésis, das zum Arrondissements Cambrais gehört - unweit der Belgischen Grenze bei Mons. 

Meine Mutter wurde 1923 im kleinen Dorf Saint Benin geboren, die etwa zwei Kilometer entfernt von der 7000 Einwohner zählenden Kleinstadt Le Cateau (flämisch: Kamerijkskasteel) liegt. Eine Landschaft die im Sommer durch seine weiten, wellenartigen Felder beeindruckt, im Winter wird es aber hier durch Nebel, Regen und Schnee ziemlich kalt, nass und düster. Dies ist ein Grund dafür, dass viele Bauernhöfe und Häuser mit hohen Mauern umgeben sind -  wie kleine Festungen.

Bahn-Viadukt bei Saint Benin - Am Horizont Britischer Soldatenfriedhof zwischen den Bäumen

 

Le Cateau

 

Die heute rund 7000 Einwohner leben in einer von der Geschichte und den Weltkriegen geprägten Stadt. Schon zur römischen Zeit kreuzten sich Handelswege, 1559 schlossen der französische König und Spanien den Frieden von Cateau-Cambresis. Nach der Revolution 1789 lagen in der Stadt österreichische Truppen und nach Napoleons Sturz zwei Jahre lang russische Soldaten. 
 

Am schlimmsten erging es dieser Region aber im Ersten Weltkrieg. Im August 1914 und Oktober 1918 wurde Le Cateau vollständig zerstört. Danach baute man die Stadt im alten Stil - wie 1914 - wieder auf. Textilien waren Jahrhunderte lang die Quelle des Wohlstandes des am Fluss Selle gelegenen Le Cateau und seines Umlandes. Vom wirtschaftlichen Niedergang der 1960er Jahre wurden der Ort und seine Umgebung schwer getroffen. In Dörfern und in Le Cateau stehen überall Schilder: "A Vendre" vor leerstehende Häusern auch viele Geschäfte in der Stadt stehen schon seit Jahren leer - manche Häuser verfallen. Außerhalb sieht man Industriegebiete und große Supermärkte - Dörfer wirken dagegen oft menschenleer.
 
Aber in den letzten Jahren hat man zumindest für das Ortsbild
Le Cateaus viel getan. Der einst von parkenden Autos besetzte Marktplatz vor dem Rathaus ist verkehrsberuhigt, die Hauptstraße im Zentrum nur in eine Richtung befahrbar und vor dem Palais Fénelon ist ein Platz mit einem Springbrunnen entstanden. Weltweit bekannt wurde Le Cateau durch den Maler und Bildhauer Henri Matisse, der hier geboren wurde (1869-1954). Durch eine große Spende ermöglichte er, kurz vor seinem Tod, der Stadt das Museum - heute im Umbau. Ein Touristen-Higlight über die Region hinaus. Hundert Meter entfernt steht am Marktplatz auf einem Sockel Napoleons Marschall Éduard Mortier - eine weitere Berühmtheit der Stadt. Er war 1806 nach der Besetzung durch napoleonische Truppen der Kommandant meiner Heimatstadt Hamburg.   
 
Parc Fénelon - Museum Matisse im Umbau


Saint Benin

 

Unweit von Le Cateau liegt das kleine Dorf Saint-Benin - hier wurde 1923 meine Mutter geboren. Die Familie Gaspard - Aubry hat heute noch auf dem kleinen Friedhof ein Familiengrab. Hier liegen meine Urgroßeltern, mein Großvater und meine Großmutter Flore
Daneben sind auf einem Obelisk die Namen der im ersten Weltkrieg Gefallenen der Gemeinde aufgelistet. Der Name meines Großvaters, Clotaire Aubry, findet sich hier. Er war an der Lunge 1916 bei Soissons durch einen deutschen Gasangriff verwundet worden und starb 1928 an den Folgen in einem Krankenhaus in Lourdes. Auch das Dorf selbst wurde im Weltkrieg schwer zerstört - meine Großmutter Flore erlebte als 14Jährige am 26. August 1914 in ihrem Dorf die blutige Schlacht zwischen Briten und Deutschen um Le Cateau (https://1913familienalbum.blogspot.com/2014/08/le-cateau-1914-der-krieg-kommt-zu.html). Vor der Dorfkirche
hängt eine Gedenktafel für die Opfer des Ersten Weltkrieges - der Name meines Großvaters fehlt hier. Er kam erst in den 1950er Jahren auf den Friedhofs-Obelisk -Clotaire war nicht in Saint Benin geboren, kam aus der Gegend von Verdun nach dem Krieg.  Bezeichnend ist, dass die Zahl der zivilen Opfer Saint Benins genauso hoch war, wie die, der im Krieg gefallenen. Im Sommer 1914 lebten hier etwa 800 Menschen - der Blutzoll des Dorfes war hoch - nach Kriegsende fehlte eine ganze Generation heiratsfähiger Männer. Heute hat der Ort rund 350 Einwohner. https://1913familienalbum.blogspot.com/2021/11/meine-deutsch-franzosische-familie-teil_29.html
 
Britischer Soldatenfriedhof - Blick auf Saint Benin

Die schweren Kämpfe im Oktober 1918 forderten unter den britischen und australischen Soldaten viele Opfer - davon zeugen heut noch die Soldatenfriedhöfe rund um Le Cateau. Ihre Gräber werden immer noch gepflegt, ein Blick in die Grabbücher zeigt. dass heute noch Nachfahren der Gefallenen sie besuchen. In Le Cateau gibt es auch einen deutschen Soldatenfriedhof - während der Besatzungszeit hatte es hier ein großes Lazarett gegeben. Hier finden sich auch einige Gräber russischer Soldaten, die als Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten mussten - sie waren an Krankheiten und Entbehrungen gestorben.
 
 
 
 Bei unserem Besuch am 26. August 2023 - am 109. Jahrestag der Schlacht - damals wie heute ein sonniger Tag - wirkte die Gegend ländlich und ruhig - auf den Feldern grasten Kühe. Sie muhten uns Besuchern des Dorffriedhofes neugierig an. Nur das französische Denkmal und britische Soldatengräber erinnerten an die traurige Vergangenheit. 

Saint Benin wirkt heute, wie schon in meiner Kindheit, auf Besucher verschlossen und Abweisend. Aber so sehen viele Dörfer der Region aus. In Saint Benin wurden in den letzten Jahren der Platz vor der Kirche, die alte Schule und das kleine Bürgermeisteramt renoviert. Auf dem alten Friedhof, direkt neben der Bahnstrecke und dem Viadukt über die Selle, liegen meine französischer Vorfahren im Familiengrab: Gaspards/Hannappes
Hier ging meine Mutter einst zur Schule

(Ur-Großeltern) und Aubry (Großeltern). Im Gegensatz zu deutschen Friedhöfen, deren Gräber regelmäßig verlängert werden müssen - sonst werden sie eingeebnet - gibt es hier neben gepflegten auch verfallene Grabstellen - der Ewigkeit überlassen. 

 

 

Friedhof Saint Benin


 

Guise

 

Unweit von Le Cateau - auf halbem Weg nach Saint Quentin liegt das Städtchen Guise mit knapp 5000 Einwohnern. Ein großer Wehrturm auf den Ruinen einer Festung aus der Epoche Ludwigs XIV. erbaut von Vauban, dem berühmtesten  Festungsbaumeister seiner Zeit - überragt das Stadtbild. Nach der Schlacht von Le Cateau am 26. August 1914 kam es zwei Tage später hier und südlich bei Saint Quentin zum erneuten Kampf. Die Festung wurde nach dem Sieg von deutschen Truppen jahrelang besetzt und am Ende des Krieges schwer zerstört. Man überließ die Ruinen lange Zeit dem Verfall, nutzte sie sogar dazu, um Schutt abzuladen.
Eingang zur Festung
Erst 1952 wurde mit der Restaurierung der Anlage begonnen, auf Initiative von Maurice Duton, Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzung. Er gründete eine Initiative, in der junge Menschen die alte Festung restaurierten, die alten Kasematten wieder begehbar machten - das Jugendprojekt ist heute noch aktiv - auch an anderen Standorten. Bei unserem Besuch standen auf dem Gelände die Zelte der jungen Leute , die den Sommer über arbeiteten. Kein Vergnügen, denn die unterirdischen Gemäuer sind kalt,
feucht und düster. Bei den Ausgrabungen gefundene Gegenstände werden in einer Kasematte ausgestellt - so ein französisches 75mm Feldgeschütz aus dem Ersten Weltkrieg und ein altes Maschinengewehr. In einem kleinen Shop kann man ein Infoheft über die Festung erwerben - leider nur in Französisch und Englisch - aber informativ.

Guise ist aber nicht nur durch die alte Festung und den Weltkrieg bekannt. Einst herrschten hier die Herzöge von Guise, der bekannteste, lieferte 1422 Johanna von Orleans an die Engländer aus - die sie dann verbrannten. Der Sohn der Stadt, Camille Desmoulin, war einer der großen Revolutionäre von 1789. Der radikale Republikaner, der den Tod Ludwigs XVI. forderte, fiel später selber dem Terror Robespierres zum Opfer und landete auf dem Schafott.
 
Mitten im Ort steht eine großer Gebäudekomplex, der wie eine kleine Ausgabe von Versailles aussieht, aber erst in den 1860er Jahren erbaut wurde. Das 'Familistère de Guise' wurde von Jean Baptiste André Godin - einem sozial engagierten Fabrikbesitzer - für seine Arbeiter gegründet.  Drei Wohnpavillions, mit damals insgesamt 500 Wohnungen, dazu zwei Schulen, ein Kindergarten, ein Bade- und Waschhaus sowie Geschäfte - von den Bewohnern selbst bewirtschaftet - ein Theater samt Gartenanlage, waren damals ein utopisches Sozialprojekt. Und es existiert heute noch - einige Wohnungen sind noch bewohnt, man kann ein eigenes  Museum besichtigen.

Saint Quentin

 

Rathaus Saint Quentin


Unweit von Guise liegt Saint Quentin (53.000 Einwohner), die Stadt liegt an der Somme und wurde im ersten Weltkrieg zu 70% zerstört. Bereits im Krieg 1870/71 hatte die Stadt gelitten, als der französische General Faidherbe versuchte, durch einen erfolglosen Angriff auf die deutschen Truppen, das damals belagerte Paris zu entlasten. Trotz der massiven Zerstörungen im Ersten Weltkrieg zeugen immer noch das spätgotische Rathaus (1509) und die Basilika (12. - 15. Jahrhundert) von der einstigen Größe der Stadt. 
 
Der Wiederaufbau nach 1918 wurde zentral organisiert, damit entstand das neue Saint Quentin vorwiegend im Art-Deco-Stil der 1920er Jahre. In dieser Konzentration in Frankreich ziemlich einmalig. In der Basilika kann man an eingen Wänden einige, leider ziemlich verblichene Malereien aus dem Mittelalter sehen.
 
Saint Quentin -Grand Place

 
Art Deco auch in Guise...

 

Sedan und das Museum der 'dernières Cartouches' 

 

Auf der Strecke von Le Cateau über La Capelle und Hirson Richtung Deutschland liegt die Stadt Sedan. Mit seinen rund 16.000 Einwohnern, am Fluss Maas gelegen, nur wenige Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Hier wurde am 2. September 1871 Kaiser Napoleon III. mit 100.000 seiner Soldaten eingekesselt und von den Deutschen gefangen genommen. Das Deutsche Reich entstand und Frankreich wurde endgültig zur Republik. Im Jahr 1940 kamen deutsche Soldaten erneut, sie brachen damals durch die belgischen und französischen Ardennen, das hatte den Zusammenbruch der französisch-britischen Front zur Folge und führte zur Kapitulation Frankreiches im Sommer 1940. 
 
Mit seinen etwas mehr als 16.000 Einwohnern scheint die
Festung Sedan
Stadt ihre großen Zeiten hinter sich zu haben. Auch hier dürfte die Krise der Textilindustrie in Nordfrankreich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Belgische Grenze ist nur wenige Kilomer von Sedan entfernt. Größte Sehenswürdigkeit ist die alte Burganalage aus dem 15. Jahrhundert und eine alte Synagoge. Die Festung beherrbergt heute ein Hotel und das Tourismus-Büro
 
Das Museum der letzten Patrone

 
Wenige Kilometer entfernt liegt das Dorf Bazeilles. Hier versuchten am 1. September 1871 französische Marineinfanteristen den Anstrum bayerischer Truppen und die Niederlage aufzuhalten - vergeblich. Bei dem blutigen Gefecht wurden 2655 Marinesoldaten getötet oder vewundet, auf bayerischer Seite zählte man 4089 Opfer. Als den Marinesoldaten die Munition ausging flüchteten sie, oder ergaben sich. Heute befindet sich das Museum "La dernières Cartouche". Bei meinem letzten Besuch Ende der 1970er Jahren ein vergerssen wirkendes und verfallenes Haus. Ein alter Mann führte uns durch die modrigen Zimmer und zeigte die Einschusslöcher in den Wänden. An einer Wand hing eine Reproduktion des bekanntesten Bildes, vom letzten Schuss eines Franzosen auf die deutschen Angreifer. Mittlerweile wurden das Haus und der Vorplatz renoviert, eine Gedenkstätte im Museum errichtet - mit einigen Exponaten. Nur das Schild oberhalb des Eingangs ist immer noch das alte....
 
Alter Mann vor altem Schild...


 
Adieu Nordfrankreich - einen Besuch wert!