Montag, 3. Januar 2022

Meine Deutsch-Französische Familie Teil III

 

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.

 

 

Inferno 


Am 13. August 1914 erklärte die Republik Frankreich dem Kaiserreich Österreich-Ungarn den Krieg. Im beschaulichen Saint Benin interessierte das aber die Familie Gaspard weniger, als der Brief, den der Postbote brachte. An diesem Tag erhielt Vater Henri nämlich seinen Stellungsbefehl in das Korps der Territorialarmee im südlich gelegenen Saint Quentin. Mit seinen mittlerweile 40 Jahren gehörte er nicht mehr zu den aktiven Kampftruppen der Ersten Linie. Seit dem 2. August hatte die Invasion der Armeen des deutschen Kaiserreichs mit der Besetzung Luxemburgs und dem Einmarsch in Belgien begonnen.

Anfang August 1914 vertrauten die Franzosen auf den Angriffsgeist ihrer Armee. Die Propaganda aus Paris versprach, das vor 40 Jahren an Deutschland verlorene Elsass und Teile Lothringens zu befreien. Die Älteren dürften aber ungute Erinnerungen an die Kämpfe und die deutsche Besatzung nach dem Krieg 1870/71 gehabt haben. Immerhin waren in Nordfrankreich noch Jahre nach Ende des Krieges deutsche Truppen stationiert gewesen. Sie waren erst abgezogen, als  Frankreich damals die immensen  Reparationszahlungen geleistet hatte.  

Im August 1914 hatten weder Franzosen noch Deutsche - das gilt auf für ihre Militärs - eine Ahnung davon, was ein industrieller Krieg mit modernen Waffen bedeutet. So boten die Franzosen mit bunten Uniformen und roten Hosen für die Gegner ein perfektes Ziel. Die Soldaten des Kaisers zogen zwar feldgrau in den Krieg, aber marschierten oft in Regimentskolonnen, mehrere tausend Mann stark, in die Schlacht, was Maschinengewehren und Artillerie tödliche Ziele bot. Aber das wurde den Militärs beider Seiten erst nach den grauenhaften Verlusten der ersten Wochen klar - die schwersten des Krieges. In Saint Benin und Le Cateau war man sich Anfang August noch ziemlich sicher, der Krieg würde woanders stattfinden, nicht bei ihnen - ein fataler Irrtum.

Henri 1930

Die Familie Gaspard hatte jedenfalls ganz praktische Sorgen. Wie sollte es weitergehen, wenn der Vater in den Krieg musste? Die Kinder Flore und Henri hatten gerade die Schule beendet und arbeiteten. Henri Gaspard dürfte nicht besonders darauf erpicht gewesen sein, sofort nach Saint Quentin aufzubrechen. Dann überschlugen sich die Ereignisse, am 18.August begann die Generaloffensive der Kaiserlichen Armeen, die laut Schlieffen-Plan die französischen Truppen großräumig umfassen und in einer Kesselschlacht vernichten sollten. Das deutsche Heer rollte wie eine gigantische Welle von Norden durch Belgien auf die französische Grenzregion zu. Das britische  Expeditionskorps war gerade in Boulogne gelandet und versuchte bei Mons in Belgien, die graue Armee aufzuhalten  – nur einen Tagesmarsch von Le Cateau entfernt. Vor der Übermacht mussten sie sich nach schweren Kämpfen in südlicher Richtung zurückziehen, um der Vernichtung zu entgehen – und marschierten Richtung Le Cateau. 

Die Ereignisse in Belgien lösten zuerst dort eine Fluchtwelle aus. Je näher der Krieg kam, desto mehr Franzosen der Grenzregion kamen hinzu. Ein Grund war die  Erschießung von Zivilisten und Brandschatzung von Dörfern und Städten durch die Kaiserlichen Truppen. Die Bewohner von Le Cateau und Saint Benin sahen die Flüchtlingstrecks aus dem Norden und dazwischen mehr oder weniger desolate Einheiten der Armee  – Angst und Panik machten sich breit. Am 26. August wurden Le Cateau und Saint Benin zum Schauplatz erbitterter Kämpfe. Vater Henri war fort, seine Frau Marie und die Kinder suchten im Dorf Schutz im primitiven Keller ihres Häuschens. Der Kampf an der Selle war hart und Verlustreich, die Deutschen zahlenmäßig überlegen. So zog sich das britische Expeditionskorps am Abend weiter Richtung Südwesten zurück, um der Vernichtung zu entgehen. Wenige Tage später scheiterte ein französischer Gegenangriff bei Saint Quentin. Die Deutschen versuchten in großer Eile die Entente-Truppen einzuholen und Henri wollte der Gefangennahme entgehen. Sofort nach der Besetzung gaben die deutschen Militärs den Befehl aus, dass sich jeder männlichen Einwohner in wehrfähigem Alter, bei Androhung der Todesstrafe, melden sollte. Henri besorgte sich eine Hacke und Arbeitskleidung und marschierte in Richtung französischer Linien. Dabei wurde er von einer deutschen Patrouille aufgegriffen, es war nicht ungefährlich. Hielt man ihn für einen Spion, würde er ohne viel Federlesen erschossen. Er stellte sich Naiv – dabei verstand er etwas Deutsch. Die Offiziere meinten, er sei geistig zurückgeblieben und ließen Henri laufen. Eine Nacht musste er sich in einem stillgelegten Hochofen verstecken, dann erreichte er die französischen Linien.

Ende 1915 wurde Henri Gaspard, mittlerweile 41 Jahre alt,  vom aktiven Dienst abgezogen, es fehlte auch in Frankreich überall an Fachkräften in der Industrie – ähnlich reagierte man auch in Deutschland. Er wurde zur Arbeit in einer Gießerei in den Industrieort Rive de Gier geschickt, zwischen Saint Etienne und Lyon. Im Jahr 1917 wechselte er nach Lyon und danach in eine Fabrik bei Bellancourt an der Somme um am 14.Januar 1918 zurück in den aktiven Dienst beim 21.Regiment der Kolonialinfanterie versetzt zu werden. Erst Anfang Mai 1919 wurde er in Lille aus dem Militärdienst entlassen und kehrte am 15. Juni 1919 nach Saint Benin zurück. 

Die ganze Region war nicht nur durch die Kämpfe 1914 und die Besatzungszeit in Mitleidenschaft gezogen. Bei Le Cateau hatte die Kaiserliche Armee ein zentrales Lazarett eingerichtet. In der Folge entstand hier ein Soldatenfriedhof, auf dem auch russische Soldaten liegen. Sie hatten für die Besatzer als Kriegsgefangene arbeiten müssen und waren dort gestorben. Am 17.Oktober 1918 wurden Stadt und  Region in der Schlussoffensive der Entente befreit. Die Deutschen leisteten erbitterten Widerstand und in Folge der schweren Kämpfe wurden Le Cateau endgültig zum Trümmerfeld. Auch in Saint Benin waren viele Häuser und die Dorfkirche durch den Krieg zerstört worden - das Haus in der Rue Faidherbe blieb glücklicherweise unberührt. 

Besatzung und Abschiebung

Während Henri sich im August 1914 Richtung Westen absetzte, kamen seine Frau Marie und die Kinder Flore und Henri unter Besatzung. Das Regiment der Deutschen in Nordfrankreich und Belgien war unerbittlich, Zwangsarbeit und Hunger waren an der Tagesordnung. Gleichzeitig requirierten die deutschen Truppen, die Ressourcen der Region wurden systematisch geplündert, viele Einwohner mussten Zwangsarbeit leisten - manche wurden nach Deutschland deportiert. Die einquartierten Soldaten in Saint Benin ließen es sich gut gehen, zuerst waren es vor allem Bayern, die wesentlich freundlicher waren, als die gefürchteten ‚Prussiens’. Mutter Marie musste für sie Kochen und Putzen, dabei führten die Sprachprobleme zu ungewollt komischen Momenten. So wollte ein Offizier von ihr Spiegeleier gebraten bekommen und um sich verständlich zu machen, brachte er den Wohnzimmer-Spiegel in die Küche. Marie schaute verdutzt, denn Franzosen kennen den Begriff nicht. Das Leben der Zivilbevölkerung war hart, aus dem Land wurde alles herausgepresst, der Hunger wurde endemisch. Die Menschen bekamen, ausser den offiziellen Mitteilungen der Besatzer, keine Nachrichten vom Kriegsgeschehen. Die Ortskommandanten führten sich oft wie kleine Diktatoren auf. Dabei waren sie auf die Zusammenarbeit mit der alten französischen Verwaltung angewiesen - es gab also bereits damals ein Form von Kollaboration. Sie war aber nicht vergleichbar mit der des Zweiten Weltkrieges. 

Front und Kriegszone waren nah und die deutschen Besatzer fürchteten Spionage und Sabotage. Außerdem versteckten sich im Gebiet versprengte französische und britische Soldaten. Häufig wurden sie von der lokalen Bevölkerung versteckt und unterstützt, obwohl darauf die Todesstrafe stand - manche denunzierten aber auch untergetauchte Briten. Niemand durfte ohne Genehmigung den Wohnort verlassen. Als eines Tages die junge Flore ohne Passierschein eine Freundin im Nachbardorf besuchen wollte, wurde sie von einer Militärpatrouille aufgegriffen und verhaftet. Das junge Mädchen kam in Militärarrest und dort sah sie, wie ein Deserteur erschossen wurde - das vergaß sie bis ins hohe Alter nicht. Einen historischen Beleg dafür, konnte ich nicht finden. Insgesamt verhängten aber deutsche Militärgerichte während des Krieges etwa 150 Todesurteile, von denen 48 vollstreckt wurdnen

Auf die Dauer wollten die Besatzer aber die unproduktive Bevölkerung, vor allem Frauen, Alte und Kinder, loswerden. So entschied sich die Reichsregierung, viele Bewohner über die Schweiz in den freien Teil Frankreichs abzuschieben – sollte man sich doch dort um sie kümmern. Unter ihnen befand sich auch Flore mit ihrem Bruder und der Mutter. Leider fanden sich in den Unterlagen des Regional-Archivs in Laon keine Hinweise darauf, wann und wohin sie per Eisenbahn transportiert wurden. Das Leben im unbesetzten Frankreich war für sie nicht einfach, sie kamen zuerst in Lager und ihre Landsleute nannten sie oft gehässig ‚Boches du Nord’. Wann sie nach Kriegsende zurück nach Saint Benin kamen, ist unklar. Immerhin stand ihr Haus noch und das in einer Region, die unter jahrelanger Zerstörung und Ausplünderung gelitten hatte. Überall entstanden für die gefallenen Soldaten des Commonwealth große Friedhöfe. In Saint Benin wurden auf dem Dorffriedhof einige Soldaten aus Australien beerdigt, die dort während der letzten Offensive im Oktober 1918 gefallen waren. Ihre Gräber werden heute noch gepflegt. 

Im Sommer 1918, befand sich die 6.Bayerische Division, zu dem das 16. Reserve Infanterieregiment gehörte, in Le Cateau. Am 4. August wurde hier einem Soldaten, der als Regimentsmelder gedient hatte, das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen - Adolf Hitler.

Saint Benin Friedhof 2015

 

Links: 

zur Schlacht an der Selle

httpshttps://1913familienalbum.blogspot.com/2014/08/le-cateau-1914-der-krieg-kommt-zu.html ://1913familienalbum.blogspot.com/2014/08/le-cateau-1914-der-krieg-kommt-zu.html

Zur deutschen Besatzung in Nordfrankreich 

https://medienfresser.blogspot.com/2016/08/erster-weltkrieg-leben-unter-deutscher.html

https://medienfresser.blogspot.com/2016/08/erster-weltkrieg-leben-unter-deutscher_16.html

https://medienfresser.blogspot.com/2016/11/erster-weltkrieg-leben-unter-deutscher.html