Einmal im Jahr freue ich mich in meiner südwestdeutschen Diaspora als St.Pauli-Fan auf den Besuch des Auswärtsspiels in Karlsruhe. Das beginnt bereits mit der Bahnfahrt von Stuttgart nach Karlsruhe, denn schon in der 'Schwabenmetropole' oder an so 'unmöglichen' Orten wie Pforzheim oder Mühlacker steigen Fans im St.Pauli outfit zu. Kein Wunder also, wenn man dann in der Fankurve viele Leute schwäbisch oder badisch schwätzen hört.
Beim KSC ist man jetzt voll modern, denn als Auswärtsfan zahlt man beim Kauf des Tickets am Stadion einen Euro "Kassenzuschlag" - wie die Verkäuferin lächelnd erklärt. Nun ja, die Bahn kassiert ja auch zwei Euro zusätzlich, wenn man das Baden-Württemberg-Ticket am Schalter und nicht am Automaten kauft.
Immer wieder irritierend: Vor Spielbeginn wird im Stadion die 'badische Nationalhymne' - das "Badener-Lied" intoniert. Zum Mitsingen wird der Text auf der Stadionanzeige eingeblendet. Und das machen die Karlsruher dann auch noch!
Man stelle sich vor, am Millerntor würde "Stadt Hamburg an der Elbe Auen" angestimmt - "Heil über Dir, Hammonia" - gruselig... Aber im Badischen trauert man halt immer noch der einstigen Unabhängigkeit von den ungeliebten schwäbischen Nachbarn nach - das Bindestrich-Bundesland und die Stuttgarter Dominanz akzeptiert man in der einstigen Residenzstadt Karlsruhe immer noch nicht. Aber auch in Freiburg wird vor Spielbeginn das "Badener-Lied" eingespielt - da lob' ich mir doch die "Hells Bells".
Aber die Karlsruher haben auch Humor - gewollt oder ungewollt. So wird die Aufstellung der Gastmannschaft von einem Beerdigungsunternehmen gesponsert und gibt es eine Gelbe Karte, präsentiert dies auf der Anzeigetafel eine Recycling-Firma mit einer lächelnden Mülltonne....
Ultras: Animation pur
Die Fangruppen der St.Pauli Ultras sind hauptsächlich für die Organisation des Auswärts-Support verantwortlich.
Trotzdem nerven mich aber ihre "Animateure", die per Megafon den Support anheizen und damit faktisch vorgeben. Wie Berufs-Spaßmacher im All Inclusive-Urlaub...Früher stand ich am Millerntor gerne im 'singing area'. Hier war die Stimmung gut und die Unterstützung kreativ. Heute gibt es kein "You'll never walk alone" - na ja, vielleicht ist das ja veraltet. Aktuell bestimmen die drei (!) Anheizer per Megafon was läuft und es gibt kaum die Möglichkeit, eigenen Support zu entwickeln. Und die Masse folgt brav den Vorgaben ihrer 'Vorbeter' - fehlen nur noch Uniformen - schon seltsam.
Dabei bekommen die Drei vom Match direkt kaum etwas mit, stehen sie doch mit dem Rücken zum Spielfeld und brüllen mit ihren Megas die Fans an. Irgendwie wirkt das einfach maschinell, der Suport reagiert auch kaum auf den Spielverlauf. Wie meinte ein Bekannter aus Hamburg dazu: "Na ja, einige gehen zu St.Pauli nur, um sich selber zu feiern. Sie wollen animiert werden wie am Ballermann."
Zugegeben, die Ultras sorgen für Stimmung in der Kurve, aber die frühere Kreativität und die Eigenaktivität der Fans bei Auswärtsspielen hat deutlich abgenommen. Aber vielleicht ist das alles nur mein Problem?! Bei meinem ersten Besuch am Millerntor - 6.August 1977 (Werder Bremen) - gab es nicht einmal eine überdachte Gegengerade. Es ging damals auf den Stehplätzen eher betulich zu. Erst Ende der 1980er begann die Hochzeit der Fankultur in der Bruchbude am Dom. Man kam, um gemeinsam kreativ zu sein - und die Mannschaft zu unterstützen, die in der Regel ja nicht gerade durch spielerische Qualität brillierte.
Hut ab vor Ewald Lienen
Egal, wir sind halt alle älter geworden, deshalb sah ich in Karlsruhe viele ehrbar gealterte Fans und Fanninen, die einst vielleicht den "Schwarzen Block" füllten.... Grauhaarig und trotzdem voller Dynamik - dass das geht, beweist Ewald Lienen als Trainer des FC.
Lienen vor Spielbeginn in der Fankurve |
Ich habe in den Jahrzehnten so manchen Trainer des FC erlebt, das ein Coach bei einem Auswärtsspiel vor Match-Beginn in die Kurve läuft und die Zuschauer anheizt - das war für mich schon eine Premiere. Sicherlich, Lienen weiß, was die Fans von ihm erwarten, er ist ein Profi, der bei vielen Vereinen gearbeitet hat. Und er weiß, wie schnell bei einem Misserfolg die Fans ihn fallen lassen. Trotzdem Hut ab: Lienen versucht die Distanz zwischen Profifußball und Fankultur zu verringern. Auch bei St.Pauli arbeiten immer mehr Fußball-Legionäre und kaum noch 'Originale' - es ist halt ein Megageschäft und davon ist auch das Millerntor nicht frei.
Lienen nach dem Sieg |
Nachtrag: Beim KSC gibt es ja Fans, die ich nicht auf zehn Meter an mich heranlassen würde. Andererseits habe ich über ein Jahr in Karlsruhe gelebt - nette Stadt mit guter Kulturszene und vielen freundlichen Badenern - ganz anders als die meisten Schwaben! Der Busfahrer der uns nach dem Spiel zum Bahnhof fuhr, war einer von den Netten. Auf meine Frage, wann er denn ankommen würde, fragte er mich, welchen Zug ich denn kriegen müsste und meinte nur: "Das schaffen wir schon."
http://1913familienalbum.blogspot.de/2016/08/2016-fc-stpauli-vfb-as-time-goes-by.html