Montag, 29. November 2021

Meine Deutsch-Französische Familie Teil II

Vorbemerkung:

Alles was ich hier schildere wurde mir von meinen Familienangehörigen erzählt. Natürlich sind solche Berichte nur bedingt dokumentarisch, vor allem, wenn diese Geschichten Jahrzehnte später erzählt wurden und alle Gesprächspartner heute nicht mehr leben. Manches habe ich aus Dokumenten ergänzt, manches mit etwas Phantasie versucht, lebendiger zu illustrieren. Diese deutsch-französische Familiengeschichte ist auch ein Spiegel einer Epoche - von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 

Copyright: Weder der Text, noch Textpassagen dürfen ohne meine Einwilligung verwendet werden, dies gilt auch für das hier verwendete Fotomaterial. Das Urheberrecht liegt alleine beim Autor.



 

Das Dorf an der ‚Selle’

Wappen von Saint Benin

 


Am 16. Juni 1914 war Henri Paul Gaspard zufrieden, gerade hatten er mit Frau Marie, der 14-Jährigen Tochter Flore (meine spätere Großmutter) und dem 13-Jährigen Sohn Henri das eigene Haus im Dorf  Saint Benin bezogen. Mit den zwei Zimmern sowie einer Küche und kleinem Keller samt Vorratsraum war das, aus rötlichem Backstein gebaute Haus zwar klein - aber es gehörte ihnen.
Sie lebten seit 1906 im Dorf, in der Grande Rue No 1 und waren damals aus dem nahegelegenen Le Catau, Rue de L'Emaillerie, nach Saint Benin übersiedelt. Henri Paul hatte dort als Facharbeiter in einer großen Fabrik für Badenwannen und emaillierte Produkte gearbeitet. Zwar war er jetzt jeden Tag einige Kilometer zur Arbeit nach Le Cateau unterwegs, aber nun hatte die Familie ein eigenes Haus mit großem Garten, in dem man selber Gemüse und Obst anbauen konnte. 

Saint Benin heute

Das Dorf hatte 1914 etwa 800 Einwohner, benannt war es nach dem Heiligen Sankt Benignus von Dijon, der im 2.Jahrhundert in Burgund für das Christentum warb und als Märtyrer endete.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Dorf 1030, Bischof Gerard übergab später den Weiler an die Abtei von Saint André in der nahegelegenen Stadt Le Cateau. Das Dorf liegt an einem Hang in 142 Metern Höhe, oberhalb des Flüsschens Selle. Drei große Mühlen nutzten damals die Wasserkraft für ihren Betrieb. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen zu den Bauern von St.Benin viele Arbeiter, die ihr Geld in den aufstrebenden Fabriken von Le Cateau verdienten. Deshalb ist Saint Benin heute noch geprägt von größeren Bauernhöfen, umgeben von hohen Mauern. Mit der Industriealisierung wurden aber um die Jahrhundertwende hier, wie in vielen Dörfern der Region, Häuser für Arbeiter und Angestellte der Unternehmen gebaut.

Paul Henri Gaspard kam am 28. August 1874 in der Stadt
Guise (Departement Aisne) zur Welt. Der kleine Mann (1,59 Meter) galt als cholerisch, so beschrieben ihn jedenfalls später seine Tochter und die Enkelin - meine Mutter. Vor allem wenn er betrunken war, hatten sie Angst vor ihm – und er trank viel. Er war als 20-Jähriger im September 1898 zum Militärdienst beim 120. Schützenregiment eingezogen worden und kam mit seiner Truppe in die damalige französische Kolonie Tunesien. Laut Militärunterlagen aus dem Archiv des Departements in Laon wurde er im September 1897 in eine Strafkompanie versetzt, dort blieb er ein Jahr. Trotzdem war es ihm möglich, beim Militär seinen Führerschein zu machen und Paul Henri erhielt später sogar eine Verdienst-Medaille der Kolonialtruppen. 


Nach Ende der Militärzeit kehrte er nach Frankreich zurück. Was ihn dann nach Le Cateau verschlug, ist unklar, wahrscheinlich fand er hier Arbeit. In seiner Militärakte steht als Beruf „Emailleur“, also Facharbeiter. In Le Cateau gab es
Flore 1900
die Emaille-Fabrik Dupont, die Badeinrichtungen herstellte. Seit 1868 wurde in der Keramik-Fabrik von Felix Simon - einem Sohn Saint Benins - Kacheln und Bodenplatten hergestellt. Heute noch liegen auf den Fussböden vieler alter Häuser im Ort alte Steinkacheln. Paul Henri kam Anfang 1899 mit seiner Frau Marie (1881, geborene Hanappe) nach Le Cateau, dort bekam sie am 7. Februar 1900 eine Tochter, meine spätere Großmutter Flore Fernande, ihr folgte ein Jahr später der Bruder Henri.   

 

 

Die Landschaft in der Region verläuft in flachen großen Wellen Richtung Nordsee. Hier liegt der französische Teil Flanderns, unweit entfernt der Grenze zu Belgien bei Mons. Aus diesem Grund gibt es für Le Cateau auch einen niederländischen Namen: Kamerijkskasteel. 

Die hügelige Region wird bei Le Cateau vom Tal der Selle durchschnitten, an seinem Hang steht das Dorf Saint Benin. Die Region um Le Cateau wurde durch die Industriealisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch zum Verkehrsknotenpunkt. Ein großes Eisenbahnviadukt überspannt das Tal der Selle seit 1854. Die Strecke verbindet Paris mit Brüssel und Antwerpen in Belgien - und führt bis nach Deutschland. Außerdem treffen bei Le Cateau wichtige Nationalstrassen zusammen, die Cambrai und das Meer mit Charleville-Mezières und Süd-Belgien verbinden.

Die Winter sind hier rau, Regen, Schnee und eisiger Wind kommen vom rund 100 Kilometer entfernten Kanal und der Nordsee. Das hat auch die Menschen hier geprägt, einfache Leute, deren Gesichter von der harten Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken geprägt sind. Im Winter eine ungemütlich neblig- graue Landschaft, die Melancholie aufkommen lässt. Wird es aber Frühling und Sommer, hat man einen weiten Blick über die grüne Landschaft, vor allem Felder und Wiesen, auf denen das Vieh grast. 

Flandern war zwischen den Mächtigen begehrt und umstritten und wurde immer wieder zum Schlachtfeld. Schon die Römer und Attilas Hunnen zogen hier vorbei, die Französischen und Habsburger Herrscher wollten es erobern und in Le Cateau wurde am 3. April 1559 Geschichte geschrieben. Damals schlossen sie hier den Frieden von Cateau-Cambresis - Spanien bekam Burgund und Neapel zugesprochen. Nicht weit von Le Cateau liegt Rocroi – dort besiegte 1643 der französische Thronfolger (Dauphin) die bisher als unbesiegbar geltenden Soldaten der spanischen ‚Tercios’. Damit bekräftigte er Frankreichs Rolle als europäische Großmacht. Auch in der Neuzeit wurde die Region durch Kriege zwischen Deutschland und Frankreich verheert, das 1854 erbaute Eisenbahnviadukt wurde dreimal zerstört: 1870/71, 1914/18 und 1939/45.  

Berühmtester Sohn Le Cateaus ist der Maler Henri Matisse, der hier 1869 zur Welt kam. Stolz ist man auch auf Édouard Adolphe Mortier, einst Marschall Napoleons I. im Jahr 1806 Kommandant meiner Heimatstadt Hamburg. Sein Denkmal steht auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus von Le Cateau - ein kleines Museum erinnert an Matisse.

 

Aber die Vergangenheit interessiert im Sommer 1914 Paul und seine Familie wenig. Endlich war der harte Winter vorbei, das Geld für den Kauf des Hauses musste verdient werden und um die Familie zu versorgen. Seine Frau Marie hatte genug mit der Hausarbeit und den Kindern zu tun. Das Häuschen in der Rue Faidherbe war in der Zeit der Regentschaft Napoleons III. (1852-1871) gebaut worden. Im Gegensatz zu den davor und danach errichteten Häusern, stand es mit der Schmalseite zur Rue Faidherbe. Man wollte nur wenige Fenster zur Straße, weil damals die Steuern nach deren Anzahl berechnet wurden - also ein Steuerspar-Modell. Das kleine Haus bot einen eher kargen ‚Komfort’, gegenüber im Garten befand sich neben dem Kaninchenstall das Plumpsklo. Immerhin hatte die Küche ein Waschbecken aus Steingut samt Wasserleitung. Geheizt wurde mit kleinen Kohleöfen, das Heizmaterial kam aus den nahen Revieren Nordfrankreichs. Wichtig war der große Garten mit seinen Obstbäumen und Beeten, in denen Gemüse und Kräuter angebaut wurden. Heute noch eine Spezialität der Region ist der geräucherte Knoblauch, die großen bräunlichen Zöpfe kann man auf den Wochenmärkten kaufen. Wochentags gingen die Kinder Flore und Henri, deren Schulzeit beendet war, zur Arbeit. Am Dorfrand, direkt neben der Eisenbahnlinie befand sich der Friedhof, auf dem später die gesamte Familie – bis auf meine Mutter – im Familiengrab ihre letzte Ruhe finden sollten.  

Als die Familie Gaspard am 16. Juni 1914, einem Dienstag, ihr neues Haus bezog, ahnte niemand, das knapp zwei Wochen später, am 28. Juni, das Attentat auf den Österreich-Ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo blutige Folgen für Le Cateau und Saint Benin haben sollte. Mitte Juni 1914 schien die Welt noch in Ordnung und so nahm man hier kaum großen Anteil an der aktuellen Debatte im Parlament. Dort hatte gerade der frisch gewählte Ministerpräsident, René Viviani die ein Jahr zuvor verabschiedete Verlängerung der Wehrdienstzeit auf drei Jahre verteidigt. Damit sollte die Anzahl aktiver Soldaten in Friedenszeiten gesteigert werde. Die Folge war, dass im deutschen Kaiserreich eine Aufstockung des Friedensheeres beschlossen wurde. Trotz des Säbel-Gerassels - dass man kurz vor einem Krieg stand, damit rechnete kaum jemand - schon gar nicht in Saint Benin.....  

 



Der alte Obstbaum im Garten in den 1980ern

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